Donnerstag, Dezember 22, 2016

EIN  SPIELZEUG  DER  DEUTSCHEN SPRACHE:
                               Die VOR-Silben



Sprache ist ein Ausdruck unserer Gefühle, unserer Gedanken und unseres Willens.

Da alles auf der Erde miteinander kommunizieren will und muss, haben auch unsere nahen Verwandten, die Tiere, Sprachen gefunden, die wie unsere Sprache, Laute hatten:  zischen, brummen, bellen, trompeten, singen.
Solche Sprachen verstehen wir nicht. Wir mussten den Lauten eindeutige  Inhalte geben, wenn wir miteinander jagen wollten oder etwas miteinander verhandeln mussten.

Wann wir Menschen unsere Sprache erfanden, weiß niemand genau. Aber dass die von uns erfundene Sprache ein ständig wachsendes und sich veränderndes Element ist, spüren wir ständig, z.B. am gegenwärtigen munteren Eindringen von Anglizismen in unsere Alltagssprache.


In SUMER, dem fruchtbaren Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris, fanden Archäologen Gedichte, als Texte in Ton geritzt, die zweieinhalb tausend Jahre vor Chr. entstanden. Die Gedichte gefallen uns noch heute und berühren uns mit ihrer Leidenschaft.

Geschrieben wurden sie in einer Keilschrift, mit der die Sumerer sowohl Waren-Begleitlisten für ihren Handel wie zärtliche Gedichte für ihre Himmelsgöttin schrieben. Solche Gedichte hat man gefunden.

Wenn eine Sprache Gedichte machen und aufschreiben kann, ist sie schon ziemlich fein und ausgereift. Vor allem hat sie parallel zu einer mündlichen Sprache bereits eine Schriftsprache entwickelt. Bei den Sumerern war es eine Keilschrift. Diese Schrift zu verstehen, eine Mischform zwischen Zeichen und Bild, war eine anspruchsvolle Aufgabe der modernen Sprachwissenschaften.

Mündliche, dann schriftliche Sprache sind eine hohe schöpferische Leistung des Menschen; wahrscheinlich geformt durch die Umgebung, in der die Menschen lebten, für die sie, sich anpassend, sprachliche Benennungen brauchten.

Lebten Stämme in Bergen zwischen Schluchten und Wäldern, brauchten sie Wörter für diese Dinge. Lebten sie in Wüsten mit Sand und Steinen, mussten sie dafür Wörter und Beschreibungen finden.  

So entstanden wohl verschiedene Sprachen der einzelnen Stämme, je nach den Lebensräumen der Sprechenden.
Im frühen europäischen Raum lebten viele Stämme mit ihren Stammes-Sprachen nebeneinander.
Annäherungen der Stammessprachen entstanden bei Kontakten zwischen ihnen.

Schließlich bildeten sich in sehr langen historischen Prozessen in Europa zwei dominante Sprachgruppen aus, die sich in ihren Eigenarten deutlich erkennbar unterschieden: Die LATEIN basierten Sprachen und die GERMANISCH basierten Sprachen.
Zu den romanischen Sprachen gehören Französisch, Spanisch, Portugiesisch, Italienisch u.a.  Zu den germanischen Sprachen Deutsch, Englisch, Holländisch, Skandinavisch u.a.; mit ihren jeweiligen Eigenarten.
Eine auffällige Eigenart im Wortschatz der deutschen Sprache im Vergleich mit den romanischen Sprachen ist eine deutlich geringere Anzahl von Stamm-Verben im Deutschen (gehen, stehen, sitzen, kommen, laufen etc.), mit einer höheren Anzahl von verwendeten VOR-Silben.
Eine Ursache für die hohe Anzahl von Stammverben in den Romanischen Sprachen ist ihre Herkunft aus dem Latein der Römer. Die Römer eroberten seit Cäsar große Teile von Westeuropa. Die Eroberten, ein buntes Gemisch  aus Germanen, Kelten, Etruskern, Iberern nahmen die Volkssprache der römischen Sieger, das sogenannte Vulgär-Latein, offenbar willig an.
Die Römer waren exakt denkende Realisten. In ihrer Sprache prägten sie für jede Handlungs-Variante ein eigenes Verb, das die Handlung eindeutig machte. Damit entstand eine Menge von Stammverben.
Im Deutschen blieb die Anzahl der Stammverben deutlich geringer.  Das führte aber nicht zu einer Verarmung der Ausdrucksmöglichkeiten, sondern zu Bedeutungserweiterungen der Stammverben durch eine Besetzung mit VOR-Silben.                                                            
Mit dem Voransetzen eines winzigen Sprachteils (ver-, zer-, ent-, be-, etc.) gelang und gelingt oft eine Handlungsbeschreibung, die differenzierter ist als bei den romanischen Nachbarsprachen.
Von einem einzigen Stamm-Verb im Deutschen leiten sich häufig fünf und mehr durch VOR-Silben variierte Verben mit ganz verschiedenen Bedeutungen ab. Aus rd. 80 häufig verwendeten Stammverben können auf diese Weise im Deutschen ca. 1200 abgeleitete Verben entstehen.

Beispiel:                       SETZEN:
- entsetzen                     (erschrecken, sich fürchten)
- beisetzen                     (beerdigen)
- übersetzen                    (in andere Sprache/ oder über ein Gewässer setzen)
- besetzen                       (erobern/ oder in einer Firma platzieren)
- ersetzen                      (Schaden gutmachen)
- aussetzen                      (pausieren/ oder verstoßen)
- einsetzen                       (installieren)
- absetzen                        (beenden/oder degradieren)
- durchsetzen                    (sich behaupten, übertrumpfen)
- umsetzen                       (realisieren)
- freisetzen                      (lösen, entfesseln)
- draufsetzen                     (jmd. sitzenlassen, enttäuschen)

 BRINGEN:                      STOSSEN:                              
- verbringen                       - verstoßen
- mitbringen                       - aufstoßen
- umbringen                       - abstoßen
- beibringen                       - umstoßen
- unterbringen                    - ausstoßen                  
- durchbringen                   - zerstoßen

Noch mehr Flexibilität ergibt sich durch die Doppelsinnigkeit mancher Verben aufgrund der gewählten Vor-Silbe. Einige der angeführten Beispiele zeigen: Der Sinn des Stammverbs kann sich mit einer Vorsilbe völlig verändern.
Das Deutsche liebt es, das Seiende zugleich mit dem Werdenden zu denken und auszudrücken („wegdenken“). Diese kühne gedankliche Kombination lässt sich mit einer Vor-Silbe realisieren.

 HUGO v. HOFMANNSTHAL schreibt dazu:
„Dass wir Deutschen das uns Umgebende als ein Wirkendes („Die WIRKLICHKEIT“) bezeichnen, die lateinischen Europäer es Dinglichkeit („La REALITE“) nennen, das zeigt die fundamentale Verschiedenheit des Geistes und dass jene und wir in ganz verschiedener Weise auf dieser Welt zuhause sind.“

Die leichte Formbarkeit der Sprache lässt Gedankenblitzen, plötzlichen Einfällen viel Raum und macht das Erlernen oder gar Beherrschen des Deutschen nicht leicht.
MARK TWAIN hat sich bei einem „Bummel durch Europa“ humorvoll über die „schreckliche deutsche Sprache“ beklagt. Die Neigung, das Verb ganz nach freiem Willen, vielleicht in die Satzmitte oder endlich am Schluss eines langen Schachtelsatzes zu setzen, ist aus angelsächsischer Sicht ein „schreckliches“ Hindernis beim Lesen und Verstehen.
Das nervt auch manche deutsche Leser. Deutsche Prosa wirkt oft nicht schön, sondern kompliziert, durch die große Freiheit im Satzbau, die das Deutsche erlaubt.
Deshalb wird Prosa vom Durchschnitt der Menschen auch kaum mehr gepflegt. BRIEFE werden erleichtert durch Twittern ersetzt. Je kürzer, je besser.
Die Stimmung vermittelnde Vielfalt der Vor-Silben wird viel einfacher erreicht durch ein Smiley. – Lustiger!

Lust an der Sprache fördert ihre Fortentwicklung. Sprache ist (auch) MODE, die mit Lust aufgegriffen, wie ein Spielzeug wieder weggelegt und vergessen wird. Wer hätte vor 10 Jahren verstanden, was es heißt: „Ein SELFIE“ machen? Heute kann das niemand mehr missverstehen und in 10 Jahren wird man den Ausdruck vielleicht als albern abgelegt haben.
Sprache folgt oft einer Mode. Aber Sprache muss in jedem Stadium ernst genommen und als sinnvoll angesehen werden, auch in dem „altmodischen“ Stadium mit einer Vorliebe für Vor-Silben.  Diese Vorliebe wird einen Grund gehabt haben – Warum und wie entstand sie?...
Wie kann aus dem Stammverb ZÄHLEN die Variation „Erzählen“ geworden sein? Was verbindet die beiden Wörter mit so unterschiedlicher Bedeutung auf gleichem Stamm?
Eine Vermutung: Erzählen ist eine Lieblingsbeschäftigung der Menschen; vor allem bei Menschen, die Zeit haben.
Etwas „erzählen“ bedeutet, mehrere Begebenheiten und Szenen erzählend an einander zu reihen.  Dabei öffnet sich ein Erzählraum. Dieser Erzählraum ist ein Zeitraum außerhalb der realen Zeit. Wir versetzen uns in ihn hinein und erwarten mit Spannung seinen Inhalt und Verlauf.
Dieser Zeitraum ist der Kern des Erzählens.
In ihm ist alles enthalten, auf das wir gespannt sind. „Erzählen“ ist das Aufzählen von Ereignissen und Szenen. In einem  Zeitraum außerhalb der Zeit.

Nicht für alle Wortschöpfungen mit Vor-Silben lässt sich leicht eine Erklärung finden für eine Sinn-Veränderung durch VOR-Silben. Welche Beziehung besteht zwischen SETZEN und „entsetzen“? oder zwischen HALTEN und „unterhalten“, zwischen BRINGEN und „umbringen“ ?                                                  
Hier hat die Sprachphantasie gearbeitet und das Publikum ist ihr gefolgt. Die Allgemeinheit muss wohl gespürt haben, dass irgend eine verdeckte Beziehung zwischen den beiden Verb-Formen bestand. Welche? - Man findet die Beziehungen nicht, ohne fest zu überlegen.

Auffällig ist die Möglichkeit einer positiven oder negativen Färbung der Vorsilben. „Zer-, ver-, ent-„scheinen für die Handlung eine negative Tendenz anzuzeigen.  Hört man aber die Wörter: „verlieben, verloben“, assoziiert man damit etwas Positives. – Sollte das dritte Wort der Reihe: „ver-heiraten“ einen dunklen Schatten werfen?
(-Und was bedeutet eigentlich das Wort “heiraten“? – Hei-RATEN?)

Neue, spontane Wortschöpfungen begegnen uns ständig (BREXIT). Ob sie dauerhaft Bestand haben, ist offen. Das hängt von der Zustimmung der Allgemeinheit, von der Mode, von der langfristigen Brauchbarkeit der Wortschöpfungen ab. Damit bleibt jede Sprache lebendig.
Da die deutsche Sprache nicht von einer „Academie Francaise“ auf ihre Reinheit überwacht wird, wächst sie wild in hässlichen und auch in schönen Formen, im Geist der Zeit.  Der deutsche Wortschatz wird von ständigen Zuwanderungen und Abwanderungen betroffen sein; so wie die Zeiten sich ändern.

Der schöne Reichtum der deutschen Sprache, die so sensibel auf Gefühle und Gedanken des Sprechenden eingehen kann, entsteht nicht zuletzt durch das unbegrenzte muntere Spiel mit den VOR-Silben.
Auch in schlechten Zeiten wird die Lust am Sprachspiel nicht vergehen. Die Sprache spielt uns Formen zu, die uns überraschen und gefallen. Daran ist das Deutsche reich.
Die Hauptsache ist, dass wir mit unserer Sprache ausdrücken können, was uns bewegt, beglückt und bedrückt. Können wir unser Glück zum Ausdruck bringen, fühlen wir es noch intensiver. Können wir eine Bedrückung formulieren, sind wir schon ein Stück weit von ihr befreit.
Die spielerische Verwendung von VOR-Silben hilft uns oft, das richtige Wort zu finden. („Ich werd‘ verrückt!“)