Mittwoch, November 27, 2019

SCHÖNHEIT - EIN GEGENGIFT?


300 Jahre v. Chr. schrieb ein griechischer Komödiendichter: „Das Beste im Leben ist, Verständnis für alles Schöne zu haben.“

Ein anderer Grieche dieser Zeit, PLOTIN, rückt die Schönheit in einen Vergleich mit der Sonne: „Nie hätte das Auge jemals die Sonne gesehen, wenn es nicht selber sonnenhaft wäre; so kann auch die Seele das Schöne nicht sehen, wenn sie nicht selbst schön ist.“ Der überragende Philosoph PLATON meinte: „Wenn es etwas gibt, wofür es sich lohnt zu leben, so ist es die Betrachtung des Schönen.“ 2000 Jahre n. Chr. schrieb ein deutscher Dichter über die Schönheit:

                   „Ewig jung ist nur die Sonne, sie allein ist ewig schön.“
                   (Conrad Ferd. Meyer)

Das Schöne hatte wohl zu allen Zeiten einen außerordentlichen Stellenwert. Sein Reiz ist hoch. Aber ähnlich hoch ist die Unsicherheit über seine Art, seine Definition. Was ist denn das Schöne?  Was ist schön?
In unserer Moderne schrieb der irische Dichter JAMES JOICE: „Das Ziel des Künstlers ist die Schaffung des Schönen. Was das Schöne ist, ist eine andere Frage.“    
Es ist eine offene Frage geblieben.
Gibt es Geschaffenes, das alle Menschen, oder fast alle, schön finden? Findet jeder Mensch etwas anderes schön?  Wovon hängt das ab? Von Bildung, Übung, Veranlagung, Stimmung, Zeitgeist, - oder von was? Liegt die Unsicherheit am Schönen selbst?  Ist das Schöne etwas Unfassbares? Ist es gar- keine selbständige Größe, sondern ein wechselnder Reiz? Von was? Das sind recht schwierige Fragen.
Lichtwer Magnus Gottfried, ein deutscher Dichter hat im 18. Jhd. einmal eine recht einfache Antwort darauf gegeben, was schön ist:

                   Schwarz und Weiß

                   Ein Mohr und Weißer zankten sich,
                   Der Weiße sprach zu dem Bengalen:                   
                   "Wär ich wie du, ich ließe mich                   
                   Zeit meines Lebens niemals malen.

                   Besieh dein Pechgesichte nur,
                   Und sage mir, du schwarzes Wesen,
                   Ob dich die spielende Natur
                   Nicht uns zum Scheusal auserlesen?"

                   "Gut", sprach der Mohr, "hat denn ihr Fleiß
                   Sich deiner besser angenommen?
                   Unausgebratner Naseweis,
                   Du bist noch ziemlich unvollkommen.

                   Die Welt, in der wir Menschen sind,
                   Gleicht einem ungeheuren Baume,
                   Darauf bist du, mein liebes Kind,
                   Die noch nicht reif gewordne Pflaume."

                   Sie zankten sich noch lange Zeit,
                   Und weil sich keiner geben wollte,
                   Beschlossen sie, daß ihren Streit
                   Ein kluger Richter schlichten sollte.

                   Als nun der Weiße recht behielt,
                   Da sprach das schwarze Kind der Mohren:
                   "Du siegst, ich habe hier verspielt,
                   In Tunis hättest du verloren."

                   So manches Land, so mancher Wahn,
                   Es kommt bei allen Nationen
                   Der Vorzug auf den Ort mit an,
                   Schön ist, was da gilt, wo wir wohnen

„Schön ist, was da gilt, wo wir wohnen …“ Denken wir heute noch so? Sicher nicht. Wir leben im Zeitalter der Globalisierung und haben uns längst geöffnet für die Schönheiten aus anderen, weit entfernten Kulturkreisen. Chinesische Tusch-Landschaften können uns ebenso entzücken wie Europäische Landschaftsmalereien der Impressionisten. Oft steigert das Fremde sogar den Reiz.  
Neben unserer Verehrung für die Schönheit gibt es auch Vorbehalte gegenüber der Schönheit. Die können bis zu Ärger oder Ablehnung reichen.
Als besonderer Fehler des Schönen wird wohl am häufigsten bemerkt und beanstandet: Die Flüchtigkeit, die rasche Vergänglichkeit der Schönheit.

                   „Schönheit – ist nur eine Leibrente, wenn die Schönheit stirbt, so hört die Zahlung auf, und sie stirbt immer jung.“                   (August  v. KOTZEBUE)

                   „Schönheit ist vergänglich, und wie mit den Jahren sie zunimmt, nimmt sie auch ab.“                    (OVID)

                   „Ein jeder Tag bricht dir was ab von deiner Schönheit bis ins Grab.“                   (GRIMMELSHAUSEN)

                   „Siehe! Da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle, dass das Schöne vergeht, dass das Vollkommene stirbt.“
                   (FRIEDRICH  SCHILLER)

Diese Anklagen sind eigentlich merkwürdig; denn Wechsel und Wandel sind das Charakteristikum unserer Welt; sie betreffen alles, was ist, uns eingeschlossen! Das fällt uns bei anderen Erscheinungen anscheinend weit weniger auf als bei dem begehrten Gut der Schönheit.
Andere Vorbehalte gegen das Schöne sind auch nicht selten. Z.B. im Hinblick auf Frauen-Schönheit; hauptsächlich, wenn es sich um männliche Meinungen handelt.
„Drei Zehntel der Schönheit einer Frau sind angeboren, sieben Zehntel auf Putz zurückzuführen“.„Nicht die Schönheit der Frau blendet die Männer, die Männer blenden sich selbst.“ „Die Frau ist für die Männer eine Beschränkung des Lebens.“
Da klingt ein Vorwurf der Täuschung an. Täuscht das Schöne auch? Verspricht es, was nicht gehalten wird? Ist es doppelzüngig?
Eine auffällige Besonderheit des Schönen ist seine starke WIRKSAMKEIT, seine Effizienz, die fast immer funktioniert.  Wenn wir mit Schönem konfrontiert werden, fasziniert uns das Schöne, hebt trübe Stimmungen, freut uns – je länger wir uns in seinem Umkreis aufhalten. 
Das wirklich Schöne wirkt als ein Gegen-Mittel gegen die belastenden Tendenzen dieser Welt: Uns zu deprimieren. In unserem unvorhersehbaren, zwischen Schlägen und Freuden rasch wechselnden Lebenslauf ist seelische Stabilität oft schwierig.                             
Das füllt die Praxen der Psychiater und Psychotherapeuten, mit deren Hilfe man Befreiung von Niedergeschlagenheiten erhofft. Rund ein Viertel der Weltbevölkerung soll im Lauf des Lebens von kürzeren oder längeren Behandlungsbedürftigen Depressionen befallen werden.  
Ein Kennzeichen von Depression ist das Drehen der Gedanken um immer gleiche negative Eindrücke und Gefühle, welche zunehmend die Empfindungen für Freude und Genuss am Leben auslöschen. Schon antike Denker waren der Meinung, dass das Schöne (-in der Kunst, - bei den Frauen, in der Geselligkeit, in der Natur) die Sperre einer Depression aufbrechen kann und  sich Erscheinungen des Schönen gegen eine solche Sperre nutzen lassen.
Das Schöne kann also ein Gegen-Mittel gegen die Schwierigkeiten des Lebens sein; es zieht  Aufmerksamkeit auf sich und lenkt die Empfindungen auf seine Betrachtung und seinen Genuss.     
Warum kann es aber auch ein Gift sein? - Weil wir nicht sicher sein können, wann das Schöne eine (falsche) Illusion unserer Sinne ist, - oder ein  gestaltendes Element unserer Welt.
ALBERT EINSTEIN, der große Theorie-Erfinder, hielt die Schönheit offenbar für ein gestaltendes Element unseres Universums. Während jahrelanger Suche nach einer schlüssigen Formel für die Beziehung von Materie zu Raum und Zeit nahm EINSTEIN zwei Freunde mit exzellenten Mathematik-Kenntnissen zu Hilfe. Gemeinsam erarbeitete hoch komplizierte Formeln befriedigten EINSTEIN gerade wegen ihrer komplizierten Länge nicht. Er drängte nach immer weiterer mathematischer Reduktion.  
Als er schließlich zu seiner Formel: E = mc2
(Energie = Masse mal Geschwindigkeit im Quadrat) fand, bestätigte die Knappheit der Formel für ihn ihre Richtigkeit, weil sie – nach seinen Worten – „schön“ sei.  
Als FALSCHE Illusion oder Wunschvorstellung unserer Sinne kann Schönheit  zu schrecklichen Ergebnissen führen. Das Verbreiten von schlimmen Illusionen hat das 20. Jh zu einem Jahrhundert des Schreckens gemacht.         
Als falsche Illusion ist Schönheit ein Gift, das verführen kann. Als ordnendes Element der Welt kann Schönheit als Gegengift wirken gegen die Belastungen, die die Welt uns zumutet.      
Wenn das Schöne keine Illusion ist, sondern ein Element, das das ganze Universum durchzieht, können wir uns an seiner positiven Wirkung freuen. Wie könnte man entscheiden, ob Illusion oder Wahrheit?
Es gibt ein Kriterium, das alles wirklich Schöne auszeichnet: Eine jeweils ihm eigene ORDNUNG. Alles gelungene Schöne ruht auf der Basis einer ihm eigenen ORDNUNG seiner Elemente, denen nichts hinzugefügt und nichts entnommen werden kann, ohne seine Schönheit zu beeinträchtigen. Verständnis für etwas Schönes erhält man, wenn man  Ordnungen  erkennen lernt: Formen bilden Brücken zu anderen Formen, Farben verbinden sich mit ähnlichen Farben zu Farbklängen, Leerräume werden mit anderen Leerräumen zu Mustern des Ganzen.
Das lässt an das Gefüge des Kunstwerks denken, den Prototyp des Schönen. Jedes Kunstwerk ruht auf der Basis von einer eigenen Ordnung der gestalterischen Elemente, die der kreative Künstler aussucht, arrangiert und verarbeitet, bis die Elemente zu einem Ganzen werden, das der Vorstellung des Künstlers von einem Kunstwerk entspricht. 
Qualität und Rang eines Kunstwerks lassen sich erst einschätzen, wenn man die Ordnung seiner Elemente erfasst hat, die hinter der Schönheit seiner Erscheinung steht.      
EINSTEIN „erkannte“ die Vollendung seiner berühmten Formel an ihrer knappen Ordnung, die ihm „schön“ erschien. Die Qualität der Schönheit hat ihn in seiner Überzeugung bestärkt, dass diese Formel richtig ist; was sich bestätigt hat.
Mit dem Kriterium einer zu Grunde liegenden Ordnung kommt man dem Verständnis des Schönen näher.
Aber eine unruhige Frage bleibt:
Kann man sich auf die Ordnung des Schönen verlassen, die erkennbar ist, oder muss man sich vor seinen unerkannten Verführungen hüten? Besteht Sicherheit oder Unsicherheit im Erkennen des Schönen? Im Kunstwerk, in der Natur, in der weiblichen Schönheit, in der Lebensgestaltung, in der Gesellschaft?

Was schön ist, entscheidet in der Regel jeder nach seinen Vorlieben.
Um Schönes einigermaßen dauerhaft zu machen, muss es von uns in Ordnung gehalten werden. Nichts bleibt schön in der Unordnung. Im Alltag erfahren wir ständig, dass Ordnung Mühe macht. Wenn wir Bücher oder Papiere häufig benutzen, legen wir sie nicht jedes Mal an ihren Platz zurück, sondern auf einen Stapel, der anwächst, bis er so unübersichtlich wird, dass dringend aufgeräumt werden muss;  oder es entsteht ein chaotischer Berg, über den man nicht mehr Herr wird. 
Alle MATERIELLEN Dinge haben die Tendenz zu chaotischer Unordnung. Das hat die Wissenschaft als ein physikalisches Gesetz erkannt. Zugleich wurde erkannt, dass alles LEBENDIGE dieser Tendenz entgegenwirkt. Das LEBENDIGE strebt ständig danach, das Chaos der MATERIE in Ordnung zu bringen! 
Täglich beobachten können wir das an unserem eigenen Körper. Der perfekte Austausch seiner lebendigen Substanzen untereinander entwickelt die Abwehr- und Reparaturkräfte, die die täglichen kleinen Schäden an der MATERIE unseres Körpers in Ordnung bringen, oft ohne dass wir es bemerken. 
Für alles, was wir als Menschen zum normalen Existieren auf dieser Welt brauchen, sind wir hinreichend ausgestattet; in vorderster Linie durch unsere fünf Sinne.
Die Sinne: SEHEN, HÖREN, RIECHEN, SCHMECKEN, TASTEN sind uns in allererster Linie NÜTZLICH. Ohne sie können wir uns hier nicht orientieren.
Überraschender Weise haben diese fünf Sinne aber auch die Eigenschaft, Anstöße zum SCHÖNEN auszulösen:  Es erfreut uns, in ein schönes Gesicht zu SEHEN, Musik unseres Geschmacks zu HÖREN, an einer Blume oder Frucht zu RIECHEN, etwas Leckeres zu SCHMECKEN, etwas Weiches zu STREICHELN! Der Doppelcharakter, Nützliches UND Schönes aufzuspüren, zeichnet alle fünf Sinne aus.
Darüber hinaus nehmen wir wahr, dass es noch weitere Sinne in uns gibt. Wir sprechen z.B. von einem ‚Schönheits-Sinn‘.  
Aber dieser Sinn, der Sinn für das SCHÖNE, hat keinen Doppelcharakter. Er ist nicht NÜTZLICH.    
Oder doch? 
Ist der SCHÖNHEITSSINN das Gegenmittel gegen die schwer erträglichen Härten, die unsere Existenz treffen können? Kann er die Welt für uns freundlicher machen, unsere seelischen Kräfte am Leben halten? Ist das seine Nützlichkeit? – Vielleicht.   
Das SCHÖNE ist ein Lichtblick im Dunkel.

EIN RICHTIGES ODER EIN FALSCHES URTEIL? Über ein Gedicht von EDUARD MÖRIKE "AUF EINE LAMPE"


Der junge Eduard Mörike schrieb schon als 21-Jähriger Gedichte, die zu den schönsten Versen der deutschen Lyrik gehören. Dazu zählt beispielsweise sein Gedicht:„An einem Wintermorgen vor Sonnenaufgang“. Das Gedicht hat sechs Strophen, mit unterschiedlichem Bau, Rhythmus und Reim. Zwei seiner Strophen sollen hier zitiert werden – die erste und die letzte Strophe – um die Schönheit von Mörikes Sprache zu erleben.

              1.“O flaumenleichte Zeit der ersten Frühe!
                   welch neue Welt bewegest du in mir?
                   Was ist´s, dass ich auf einmal nun in dir
                   Von sanfter Wollust meines Daseins glühe?

              6. "Hinweg, mein Geist! hier gilt kein Stillestehn:
                   Es ist ein Augenblick, und alles wird verwehn!
                   Dort, sieh! am Horizont lüpft sich der Vorhang schon!
                   Es träumt der Tag, nun sei die Nacht entflohn;

                   Die Purpurlippe, die geschlossen lag,
                   Haucht, halb geöffnet, süße Atemzüge:
                   Auf einmal blitzt das Aug, und, wie ein Gott, der Tag
                   Beginnt im Sprung die königlichen Flüge!“ 

Das sich steigernde Bild von einem Sonnenaufgang ist in vollkommener Sprache mitreißend und vollkommen. Mörike suchte seine Bilder nicht; sie traten ihm zu seinem „staunenden Entzücken“ vor die Augen. Ein weiteres Beispiel von Mörikes Bild-Einfällen, aus dem Tal von URACH:

                   „Da seid ihr alle wieder aufgerichtet,
                   Besonnte Felsen, alte Wolkenstühle!“

Wem fällt es ein, Felsen „Alte Wolkenstühle“ zu nennen? Aber wie richtig und groß gesehen ist dieser Felsen-Name, wenn Mörike uns hinführt, Felsen so zu sehen!

Mörike war ein Vielschreiber von Versen.
Er hat über 500 Gedichte hinterlassen, darunter eine Menge von Gelegenheits-Versen; Glückwünsche, Grüße, Danksagungen, Späße, Spott. Darüber hinaus dichtete er viele einmalige Verse, die ihn nach Meinung der Literaturwissenschaft als Lyriker in eine Reihe mit Goethe und Hölderlin stellen.

Im folgenden soll es nun um ein Gedicht gehen, welches viele Wissenschaftler zu den schönsten Versen von Mörike zählen.

                   „AUF EINE LAMPE“ (1846)

                   Noch unverrückt, o schöne Lampe, schmückest du,
                   an leichten Ketten zierlich aufgehangen hier,
                   die Decke des nun fast vergessnen Lustgemachs,
                   Auf deiner weißen Marmorschale, deren Rand
                   Der Efeukranz von goldengrünem Erz umflicht,
                   schlingt fröhlich eine Kinderschar den Ringelreihn.
                   Wie reizend alles! Lachend, und ein sanfter Geist
                   Des Ernstes doch ergossen um die ganze Form –
                   Ein Kunstgebild der echten Art. Wer achtet sein?
                   Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst.

Das ist ein Gedicht über ein DING, eine Lampe. DING-Gedichte zu schreiben, kam Mitte des 19. Jahrhunderts auf. 
Das 19. Jahrhundert war in Europa ein hoch kreatives Jahrhundert mit vielen gegensätzlichen Strömungen. Es legte die Grundlagen für wissenschaftliches Arbeiten auf der Basis von exakten, empirisch gewonnenen Daten:
LOUIS PASTEUR mit seinen Untersuchungen zur Keim-Abtötung durch Erhitzen (Pasteurisieren); mit seinen Erkenntnissen über das Verhalten von Keimen der Kuhpocken und ihre Ausrottung durch eine Impfung. IGNAZ SEMMELWEIS mit seinen Hygiene-Forschungen, die zur Ausmerzung des gefürchteten Kindbettfiebers führten. ROENTGEN mit der Findung seiner Strahlung zur Skelett-Betrachtung. MADAME CURIE. u.v.a.

Auf der anderen Seite war es ein sentimentales Jahrhundert; mit gestickten Sprüchen auf Handtuch-Haltern:
"Geh nie im Zorn von deines Hauses Herd! Schon mancher ging und ist nicht mehr zurückgekehrt" Oder im Poesie-Album: "Steine, Stahl und Eisen bricht, aber unsere Liebe nicht!" Oder: "Üb' immer Treu und Redlichkeit bis an dein kühles Grab und weiche keinen Finger breit von Gottes Wegen ab!" Vielleicht haben manche ältere Leser noch die Sprüche ihrer Großmütter in den Küchen, auf den Töpfen oder in den Poesiealben in Erinnerung.

Die Dinge des kleineren privaten Lebens traten im 19. Jahrhundert mit Pathos ins Blickfeld, nachdem die Zeit der großen politischen Verhätnisse vorbei war. In Deutschland lebte man in der "Biedermeier"-Epoche, die politisch erzwungen war. Vielleicht hat das Aufkommen des Ding-Gedichtes mit dieser Verkleinerung des Lebensstils zu tun. Bedeutende Dichter haben das Ding-Gedicht veredelt; Überragende Beispiele haben RILKE und auch NIETZSCHE geboten. MÖRIKE hat das hoch geschätzte DING-Gedicht "Auf eine Lampe" geschrieben.

Hier soll nun dieses Gedicht mit seinem großen Ruf näher,und auch kritisch, betrachtet werden.
In seiner Form sieht das Gedicht aus wie ein fest geschlossener Block von zehn Langzeilen, in einem schön schwingenden Jambischen Rhythmus mit sechs Hebungen pro Zeile, ohne Reim. 
So wie dem Dichter Mörike seine Bilder ohne Arbeit beim Anschauen einfielen, so fließend läuft der Rhythmus seiner Sprache beim Dichten, ohne sich dabei von Regeln hemmen zu lassen.
Der oft ganz natürliche Sprachlauf von Mörike-Gedichten ist fast einzigartig. Selbst bei den genannten Größten, Goethe und Hölderlin, spürt man die Arbeit beim Einpassen von Wörtern in Verse oft deutlicher als bei Mörike, der Regeln wohlklingend übergehen konnte.

Beim Lesen des geschlossenen Blocks „Auf ein Lampe“ dem Inhalt nach, merkt man ohne Mühe, dass der geschlossen erscheinende Block fein und unauffälig gegliedert ist. Er besteht aus drei inhaltlich unterschiedenen Teil-Stücken mit je drei Zeilen; plus einer Abschlusszeile am Ende des Blocks.

Im ersten Drei-Zeiler wird eine Situation beschrieben: In einem "fast vergessenen Lustgemach" hängt an zierlichen Ketten eine "schöne Lampe". Im zweiten Dreizeiler wird die "schöne Lampe" zum genauen Anschauen detailliert beschrieben. Der dritte Dreizeiler trägt die Emotionen vor, die den Dichter beim Anblick des Ganzen berührt haben.

Die Abschlusszeile beschließt das Gedicht mit einer bedeutungsvollen Aussage des Dichters, über die seit langem diskutiert wird.

Jeder der Dreizeiler wirft seine eigenen rätselhaften Fragen auf … Beim ersten Dreizeiler fängt das Rätselraten an!

Mit einem fast kriminalistischen Einschlag bleibt das „Lustgemach“ im Unerklärlichen:  Was hat es mit einem Lust-Gemach auf sich? Wo befindet es sich? Wer kannte es und wer hat es vergessen? Wer hat da sein Lust gehabt?

Die ersten drei Zeilen können den vorsichtigen Verdacht auslösen, der Dichter selbst habe dort einst seine Lust gehabt …

Wenn jemand merkt, dass etwas fast vergessen ist, dann war er es womöglich selber, der das Gemach einst kannte und dann fast vergessen hat, denn ein Unbeteiligter kann die Geschichte von einem fast vergessenen Gemach, von seiner Ausstattung und seinem Ort nicht kennen. Und warum fällt der Blick in dem Gemach ausgerechnet an die Decke, mit der Lampe?

Der scheue Mörike nutzt vorsichtige Worte für das Intime ... Wenn man seine Lust hat, LIEGT man meistens – der Blick geht an die Decke und trifft auf die Lampe. Der Dichter scheint so lebhaft in seiner Erinnerung zu lesen, dass ihm auffällt: Die Lampe hängt „noch unverrückt“ ganz wie einst. Das Vergangene wird ihm Gegenwart … Vielleicht will der erste Dreizeiler ein eigenes Erlebnis versteckt andeuten, im Lustgemach.

Der zweite Dreizeiler konzentriert sich auf den erblickten Gegenstand, die Lampe, und beschreibt sie im Detail! Sie ist ein Gegenstand der industriellen Massenproduktion, eine Gusseisenlampe aus der Mode der Zeit! Ein renommierter Germanist, Gerhard von Grävenitz, Spezialist der Mörikeforschung, bestätigt: „Mörike schrieb eines seiner schönsten Gedichte über die seinerzeit massenhaft hergestellten Gusseisen-Lampen.“

Jetzt bildet sich beim Leser Widerstand – bewundert Mörike in seinem Gedicht ein Massenprodukt des 19. Jahrhunderts für viele Wohnstuben? Im dritten Dreizeiler verstärkt sich der Widerstand zu einer kritischen Distanz gegenüber dem Gedicht!

„Ein Kunstgebild der echten Art“ so beschreibt Mörike die Lampe. Nein! Dieses Urteil ist falsch! Die bewunderte Lampe ist kein Kunstgebild´ der echten Art! Sie ist ein mit Kitsch behaftetes Industrie-Produkt der Zeit-Mode. „Wer achtet sein?“ Natürlich Niemand! denn solche Produkte werden am laufenden Band gemacht und sind massenhaft zu finden. Nichts Besonderes. Aber mit dem Irrtum über die Qualität seines Gegenstandes steht die Qualität des Mörike-Gedichtes auf dem Spiel! 

Die Frage ist nur: warum behält das Gedicht bei den Fachleuten trotzdem seinen Rang als "eins der schönsten Gedichte" von Mörike? Mörike hat sich in seinem Geschmacksurteil radikal geirrt! Er hat etwas maschinell Serienmäßiges ohne Bedenken in den Rang von Kunst erhoben und es entsprechend hoch besungen – trotzdem soll die Qualität des Gedichtes davon unberührt bleiben?

Der Kritikpunkt bietet Anlass, die gesamten Beziehungen des Gedichtes neu zu überdenken.
Warum nennt der Dichter auf dem Höhepunkt seines Gedichts die Lampe ein "echtes Kunstgebild"?
Man geht zurück zum Anfang. Und begegnet wieder diesem ersten, rätselhaften, Dreizeiler! Nun fällt auf, dass am betonten Ende des Dreizeilers die Wortkombination „Vergessenes Lustgemach“ steht. Worte am Satzende haben im Gedicht durch ihre Position häufig ein besonderes Gewicht.

Ist es vielleicht weniger die Lampe, die die aufkommende Stimmung auslöst? Wird die „Fröhlichkeit“ der „sanfte Geist des Ernstes“, „Alles Reizende“ von der Erinnerung an ein Lusterlebnis in dem vergessenen 'Gemach' erzeugt? Trägt die Lampe nur zur Fixierung einer Erinnerung bei? Mit der Konkretisierung eines munteren Ringelreih´n, bei dem ohne Zweifel mit alten Symbolen wie dem Efeukranz, als Zeichen des Dionysos, oder mit dem Tanz der kindlichen Putti als Erotica gespielt wird? Wann würde zum einen der Verdacht vom eigenen Erlebnis im Lustgemach wahrscheinlicher.

Zum zweiten ließe sich Verständnis herstellen für das geschmackliche Fehlurteil über die Lampe! Mörike war ganz Lyriker, kein Denker wie die denkenden Lyriker Goethe und Hölderlin. Lust zu einer kritischen Analyse war Mörike fremd. Ihm fiel zu, was Stimmungen in ihm wach riefen und spontan seine Kunst auslösten.

Über das Entstehen seiner Dichtungen gibt Mörike selbst mehrere Hinweise in dem Gedicht

                   "An einem Wintermorgen"
                   
                   Wer hat den bunten Schwarm von Bildern und Gedanken
                   Zur Pforte meines Herzens hergeladen,
                   Die glänzend sich in diesem Busen baden?

Ein Schwarm von Bildern überfällt den Dichter und weckt seine Sprache! Der Dichter als Instrument, auf dem die Eindrücke spielen und sein Herz sprechen lassen:

                   Die Seele fliegt, soweit der Himmel reicht,
                   Der Genius jauchzt in mir! Doch sage …

                   Hinweg, mein Geist! Hier gilt kein Stillestehn:
                   Es ist ein Augenblick, und alles wird verwehn!

Im unerwarteten, hoch inspirierten Augenblick wehrt der Dichter sein Denken, seinen Geist ab! Er weiß genau, dass Nachdenken über diesen Glücksmoment die kostbare Inspiration vertreibt. Er muss in diesem seltenen Augenblick mitschwingen, bevor alles verweht! Lyrische Inspiration ist ein Augenblick und der Dichter muss ihn fassen.

Wahrscheinlich hatte Mörike gar kein Interesse am objektiven Kunstwert seiner Lampe!  Es geht ihm um sein Werk und wenn die Lampe das Werk steigert, weil sie seine Sprache löst, ist sie für ihn ein "echtes Kunstgebild"! Ein "Kunstgebild", das in ihm ein Kunstwerk schafft.

Mit einem lyrischen Gedicht muss man vorsichtig umgehen. Es ist zu keinerlei Logik verpflichtet, sondern will eine Meldodie finden, die Ahnungen auslöst von den rätselhaften Stimmungen der Welt, die durch uns durchziehen. Für die Melodie des Gedichts nutzt der Dichter allerlei Mittel; Vokale, Rhythmen, Pausen, Satzzeichen.

Moderne Lyrik nimmt ihren Namen aus dem antiken Griechenland. Lyrik bedeutete dort: 'Gesungene Dichtung mit Lyra-Begleitung'. Die LYRA war ein antikes Zupf-Instrument mit sieben oder vier Saiten, mit dem der Dichter seine Verse begleitete. Ein musikalisches Element gehört zur Lyrik.
Musik und Lyrik sind subjektive Künste, die sich kaum durch Gedanken prüfen lassen. Bei Lyrik kann man selten entscheiden, ob diese oder jene Interpretation die ganz Richtige ist. Man kann nur von seiner eigenen subjektiven Interpretation überzeugt werden. So wird hier folgende Interpretation vorgestellt: Das objektiv FALSCHE Urteil über die Qualität der Lampe ist wohl ein RICHTIGES Urteil aus dem Mund des Dichters; Die Lampe wird wirklich zum „echten Kunstgebild“, weil sie ein echtes Kunstwerk im Dichter hervorlockt.

Warum das Mörike-Gedicht ein Kunstwerk ist, wurde angedeutet. Die feine unauffälige Gliederung des Gedichtes, der natürliche Lauf der gebundenen Sprache, ein „Schwarm“ von schönfarbigen Bildern, der lachende und sanfte Ernst der Stimmung und nicht zuletzt das geheimnisvoll Unerklärliche der Situation machen es sicher zu einem Kunstwerk.

Bleibt zum Nachdenken der berühmte Schlusssatz von Mörike:

                   „Ein Kunstgebild der echten Art. Wer achtet sein?
                   Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst“

Mörike sagt wohl mit seinem Satz, dass etwas, das schön ist, auf ihn wirkt, als sei es mit sich selber selig. Es braucht dazu keine Beachtung oder Bestätigung.

Mit dem Schlusssatz seines Gedichts lehnt sich Mörike an sein bewundertes Vorbild, an GOETHE an: GOETHE lässt in FAUST II den Centaur CHIRON – einen weisen Mann mit Pferdeleib, welcher Helena als kleines Mädchen auf seinem Rücken über einen gefährlichen Sumpf getragen hat – über HELENA sagen:

                   „Die Schöne bleibt sich selber selig;
                   Die Anmut macht unwiderstehlich,
                   Wie Helena, da ich sie trug.“

Da stehen sich zwei Gedanken über Schönheit gegenüber:

                   „Die Schöne bleibt sich selber selig"
                   (GOETHE)
                   „Was aber schön ist,selig scheint es in ihm selbst."
                   (MÖRIKE)

Es zeigen sich, bei großer Ähnlichkeit, Unterschiede in der Formulierung und in der Bedeutung. 
MÖRIKE formuliert vorsichtig. Ihm SCHEINT es, dass etwas Schönes mit sich selbst ganz selig ist, ohne Beachtung nötig zu haben. Etwas Schönes kann bei Mörikes Formulierung vielerlei sein: Ein schönes Ding, ein schöner Fleck Natur, eine schöne Musik – oder auch eine Lampe. Eben etwas Schönes! Der ältere GOETHE meint mit seinem Satz das Phänomen an sich, DAS SCHÖNE; seit der Antike verkörpert durch "Die schöne Helena" als die Schönheit selbst. Dahinter steht die Philosophie des deutschen Idealismus.

Der bescheidenere, eigensinnige jüngere Mörike horcht auf sich selbst, nicht mehr auf den deutschen Idealismus.Aber irgend etwas verführt ihn, mit seinem Gedicht über die Lampe ins Philosophische zu geraten, sich an den von ihm bewunderten Goethe, den Klassiker anzulehnen! Er lehnt sich an! Er gibt seinem Gedicht die fast klassische Form eines geschlossenen Blocks, mit einem Urteil als Abschluss, einem Abstraktum über ein Erlebnis.

Das lebendige Erlebnis tritt in der Wirkung zurück; der Leser kann es nur vage erraten. Die Bilder im Gedicht an die Lampe sind schön, assoziativ, sie malen eine Situation. Aber diese Bilder sind nicht MÖRIKES Bilder! Er hat sie nicht selbst erfunden, so wie er die Felsen als alte Wolkenstühle erfindet, oder wie bei ihm der Tag wie ein Gott die königlichen Flüge beginnt, im Sprung! Die von Mörike verwendeten Bilder im Gedicht "Auf eine Lampe" sind uralt, seit der Antike erfolgreich benutzt als DIONYSOS-Zeichen und Erotik-Symbole,und sie sind sehr schön. Aber sie sind nicht von Mörike gefühlt und erdacht. Sie kommen aus der Tradition.

Damit ist die Stärke von Mörike vertan, das Erfassen eines hoch inspirierten raschen Augenblicks, der nur in ihm ein Erlebnis zündet, das den Leser hereinzieht in diesen entspannten Glücksmoment, den es nur einmal gibt und jetzt.

Weder die Form, noch die Rhythmik, noch die Bilder des Gedichts 'Auf eine Lampe' vermitteln ganz den Ton, der Mörike in seinen besten Gedichten eigen ist. Das „Kunstgebild“ dieses Gedichts ist eine Anlehnung an Klassisches, schon Erfundenes.  Es wirkt damit steifer und eingeengter als seine schönsten Gedichte.  Die Bindung an die Regel eines geschlossenen Blocks, mit abschließender Beurteilung, tut der Leichtigkeit des Gedichtes nicht gut. Die Bindung an eine klassische Versform beeinträchtigt die Begabung von Mörike, seiner Sprache freien Lauf zu lassen, wenn die Schönheit einer Inspiration ihn trifft. Im „Lustgemach“ hat ihn eine Inspiration getroffen, aber die Bindung an eine Tradition hat ihre lebendige Darstellung unnötig gezähmt.

Noch etwas bremst die Entfaltung von Mörikes besonderer Begabung: die beschriebene  „Lampe“ selbst! Wenn Mörike den großen Welt-Erscheinungen wie „Tag“ und  „Nacht“, „Lust“, Wetter“,“Felsen" im inspirierten Augenblick begegnet, so sind diese Erscheinungen so groß wie die Welt selbst („Gelassen steigt die Nacht ans Land, lehnt träumend an der Berge Wand …“) Auf der "Lampe", dem Industrie-Produkt des 19.Jahrhunderts, tanzen kleine gestanzte Figürchen auf einem Blechstreifen, das ist alles. Diese aus Blech geschnittenen Figürchen sollen die mächtigen Kräfte von Liebe und Wollust aufrufen.

Größer könnte das Missverhätnis von Welt-Erscheinungen, wie sie Mörike in seinen besten Gedichten erlebt, gegenüber denen, die er im Gedicht „Auf eine Lampe“ beschreibt, nicht sein. Die Anlehnung an die Tradition hat Mörikes Begabung überdeckt.

Eins der „schönsten Gedichte“ von Mörike sind seine Verse „Auf eine Lampe“ nicht.   

Mittwoch, Oktober 11, 2017

EINE OFFENE FRAGE in einem Gedicht von GOTTFRIED KELLER (1819 – 1890)



Es ist die Überschrift, die auf das Gedicht aufmerksam macht. 
Was ist denn ein „milchjunger Knabe“?

     
          Du milchjunger Knabe
          
          Du milchjunger Knabe,
          Wie siehst du mich an?
          Was haben deine Augen
          Für eine Frage getan!

          Alle Ratsherrn in der Stadt

          Und alle Weisen der Welt
          Bleiben stumm auf die Frage,
          Die deine Augen gestellt!

          Ein leeres Schneckhäusel,

          Schau, liegt dort im Gras;
          Da halte dein Ohr dran,
          Drin brümmelt dir was!

Eigentlich versteht man das Wort „milchjung“ sofort. Aber man hat es vorher noch nie gehört. 
Man merkt, der Dichter hat es erfunden, um ein Kindergesicht zu beschreiben, dessen Blick ihn wohl überraschend getroffen hat. 
Ein Kind ist es offenbar nicht mehr. Es ist ein Knabe. Im Leser entsteht das Bild eines hellen Knabengesichts vor der Pubertät. Die Haut ist noch blank und weich, ohne ersten Flaum – „milchjung“. Das Bestimmende scheinen im Gesicht die AUGEN zu sein, die etwas fragen. 

Diese Frage in den Augen beschäftigt den Dichter. Und bald wird sie auch den Leser beschäftigen.

Zunächst soll aber die Form des Gedichtchens betrachtet werden.  
Es ist ein kleines Gedicht mit einer einfachen Form aus drei gleich gebauten vierzeiligen Strophen mit je einem Reim in der zweiten und vierten Strophenzeile.

Diese einfache Form ist in der deutschen Lyrik häufig. Sie wird bei Volksliedern und allerlei Liebesliedern gern verwendet.

Die Form liest sich leicht, nichts hindert oder bremst den Lesefluss. 
– Das ist nicht unbedingt ein Vorzug für ein Gedicht. 
Aber in diesem Gedicht entspricht die einfache Form genau seinem Helden, einem Kind; dem milchjungen Knaben. 
Der Dichter KELLER versteht es spielend, die Entsprechung von Form und Inhalt zu nutzen und die Form zu einer Aussage zu machen: Kleiner Held – kleine Form.

In den Strophen fällt ein Fehlen von Fragezeichen auf, obwohl die erste Strophe eindeutig eine Frage ist! Stattdessen steht am Ende aller drei Strophen ein Ausrufezeichen! Für den Dichter scheint nichts fraglich zu sein im Gedicht. Er ist sich – mit dreimaligem Nachdruck durch ein Ausrufezeichen! - seiner Antwort für den Knaben sicher: er empfiehlt ihm, auf ein ‚Brümmeln‘ zu horchen! Dann verspricht er ihm noch – durch das hochgemute Ausrufezeichen dahinter! –, dass er im Brümmeln etwas passendes für sich finden wird ...

Als Prosaschriftsteller und Lyriker forderte GOTTFRIED KELLER eine Erzählkunst der Natürlichkeit; einfach, genau, bildhaft. 
In seinem Meisterwerk „Der grüne Heinrich“ spricht er einmal davon, dass die Sprache seiner Zeit immer abstrakter werde – so abstrakt, dass der Dichter sie nicht mehr gebrauchen könne. Dichter müssen sich selbst ihre Sprache machen.

In dem kleinen Gedicht mit drei Strophen macht KELLER vor, was er meint. In jeder Strophe bietet er dem Leser ein kleines deutliches Bild.

In die erste Strophe stellt er die fragenden Kinderaugen. 
In die zweite Strophe stellt er bereits sein Urteil: Auf die Frage in den Augen haben weder Regierende noch Denker eine Antwort.

An der zweiten Strophe fällt auf: Mit Nachdruck steigert der Dichter hier die Frage der Kinderaugen in eine Wichtigkeit hinein, die überrascht. Die Frage in den Kinderaugen scheint so bedeutend zu sein, dass sie von höchsten Instanzen nicht zu beantworten ist; nicht von Ratsherren, nicht von allen Gelehrten der Welt.  


Im Umkreis von Ratsherren stand GOTTFRIED KELLER, der Dichter selbst. Er wurde 15 Jahre lang zum Staatsschreiber des Kantons und der Stadt ZÜRICH gewählt (1861 – 1876), welches Amt hohes diplomatisches Geschick und Gewissenhaftigkeit erforderte. Er bewältigte das Amt mit Bravour. 
Erst gegen Ende seiner beamteten Laufbahn wurde er wieder Dichter. In dieser Zeit fiel ihm das obige kleine Gedicht ein.

Versteht der Dichter die Frage in den Kinderaugen? Beantwortet er sie?

Nein und Ja. In der dritten und letzten Strophe erscheint ein Bild, mit dem der Dichter GOTTFRIED KELLER seine Antwort gibt. Der Leser bleibt gespannt.

KELLER antwortet auf die Frage der Kinderaugen mit dem Bild vom Schneckenhäuschen. „Da halte dein Ohr dran, drin brümmelt dir was!“

Ein Schneckenhaus kann nicht antworten, nicht sprechen! Der Leser lächelt. - Aber ganz im Untergrund seiner Erinnerungen findet er vielleicht eine Bemerkung von Erwachsenen, die früher gesagt hatten: „Horch mal an dem Schneckenhaus! Es rauscht!“

Das ist richtig. Ein Schneckenhaus rauscht. In einer Schneckenform stößt sich jede eingehende Schallwelle von einer Kurve des Schneckengangs zur nächsten so, dass helle Töne am Eingang der Schnecke bis zum Zentrum der Schnecke in dunkle Töne umgewandelt sind. Die Mischung der Töne macht das „Rauschen“. 
Der Dichter KELLER findet dafür sein Wort: es „brümmelt“ im Schneckenhaus.

Was ist „Brümmeln“? Es klingt wie das Brummen einer Hummel oder eines Insekts; ein Naturlaut oder eine Kindersprache. 
Es ist die Stimme der Natur!      In ihr lassen sich offenbar Antworten finden!

So muss man GOTTFRIED KELLER wohl verstehen. Zu diesem Verständnis der der Natur hatte ihn seine Lebensentwicklung geführt.

Der Dichter hatte vom Kind bis zum Erwachsenen einen wechselvollen Weg seiner Weltsicht durchlaufen. 
Als Kind hatte er, mit Maleraugen begabt, seine Umgebung in Farben und Formen eingesogen wie prachtvolle Bilder voller Geheimnisse und - von der Mutter bestärkt - einen ehrfürchtigen Glauben an Gott gespürt als den Schöpfer dieser schönen Dinge. 
Als armer Stipendiat und Student in Heidelberg war er dann in den Umkreis des Philosophen LUDWIG FEUERBACH (1804 – 1872) geraten. Dieser predigte den aufkommenden Materialismus des 19. Jahrhunderts so logisch, dass KELLER seinen Gott als Person für immer verlor. 
Dafür bekräftigte FEUERBACH in ihm die glühende Liebe zur Schönheit der Erde und zu der Einmaligkeit unseres Lebens in der Welt. 

          Doch noch wandl` ich auf dem Abendfeld, 
          Nur dem sinkenden Gestirn gesellt; 
          Trinkt, o Augen, was die Wimper hält, 
          Von dem goldnen Überfluss der Welt

(Nicht Jeder mag sich mit GOTTFRIED KELLERS Werk beschäftigen. Aber jeder bemerkt wohl allein an der obigen Strophe die hohe Qualität des Dichters KELLER.)  


GOTTFRIED KELLERS familiäre Wurzeln lagen in einer dörflichen Gegend am Rand des Kantons Zürich. 
Er selbst wurde zwar in der winkligen ärmeren Altstadt von ZÜRICH geboren, suchte aber nach dem frühen Tod des begabten Vaters dessen Dörfchen und die freie Natur oft auf und behandelte und überwand seine frühen und später großen Probleme durch eigensinniges Betrachten und Eintauchen in alle Feinheiten der Naturerscheinungen.

Aus der Natur gewann er seine Art von Erkenntnis und Beruhigung in schwierigen Lebensfragen.

(„Die kühle erfrischende Luft atmend schlief ich sozusagen an der Brust der gewaltigen Natur ein“) 
so empfiehlt er auch dem Knaben die Natur:
“Ein leeres Schneckhäusel, Schau, liegt dort im Gras! Da halte dein Ohr dran!...“

In einer früheren Fassung des Gedichts hatte KELLER gereimt: „Ein leeres Schneckhäusel liegt auf dem Schrank deiner Bas‘, und hatte sich dann korrigiert: “… liegt dort im Gras“. Der Dichter KELLER tauschte den Schrank gegen das Gras – das Unbelebte gegen ein lebendes Stück Natur als Bett für das Schneckenhaus. 
Von einer Antwort auf seine Fragen, die man im Schneckenhaus hören könne, spricht KELLER nicht. Er spricht von BRÜMMELN, einem Gemisch von undefinierbaren Lauten.
Das Wort ist gefärbt vom Schweizer Dialekt und erregt wegen seiner Ungewöhnlichkeit die Neugier des Lesers: Was kann man denn aus einem 'Brümmeln‘ erfahren? Wie heißt denn die Frage, auf die man aus einem Brümmeln eine Antwort finden könnte, auf die kein Gelehrter der Welt antworten kann? Um welche außerordentliche Frage könnte es sich denn handeln?

Ist es die unlösbare Frage nach unserer Existenz?: WOHER, WOHIN, WOZU?

So erscheint es; denn die Frage, WOHER wir kommen, WOZU wir da sind, WOHIN wir gehen, hat wirklich noch niemand beantwortet und wird es auch nie jemand können.

Das ist wohl die Frage, die KELLER in den Kinderaugen gesehen hat: 
„Was soll ich hier? WOZU?“ Das ist die offen bleibende Frage des Gedichts.

Es ist der Charme des Gedichts, dass der alternde Dichter, der im Staatsdienst hohe Anerkennung erworben hat, von zwei Kinderaugen erstaunt wird: 
„Was haben deine Augen für eine Frage getan!“ 

Spürt er eine Neigung zu dem Kind? Hätte er gerne selbst so ein Kind? Entbehrt er es? 
KELLER war nie verheiratet und hatte keine Kinder. Keine der Frauen, denen er tiefe Liebe entgegengebracht hat, hat er je für eine feste Bindung gewinnen können und er klagt es bitter:

          „Gott, was hab ich denn getan, 
          dass ich ohne Lenzgespann, 
          Ohne eine süßen Kuss, 
          Ungeliebet sterben muss?“

Der Schmerz, ohne eine feste Lebensverbindung geblieben zu sein, war ein Schmerz seines Lebens. KELLER nahm seine Abendessen im Wirtshaus ein, ging zu Bett und verbrachte die Tage im Amt mit gewissenhafter Arbeit als hochgeachteter Staatsschreiber.

Das war nicht immer so. Seine jungen Jahre waren gefüllt mit Sauf-und Rauflustigkeit, Freiheitsdisputen in gleichgesinnten Freundeskreisen während der politisch heißen Jahre des Vormärz und der freiheitlichen Bewegungen in der Schweiz wie in Deutschland. 
KELLER war lange ziellos in seinen Berufsvorstellungen und machte damit seiner in ihren Mitteln sehr beschränkten Mutter jahrzehntelang größte Sorgen. 

Das steht alles im „Grünen Heinrich“.

Aber es führte doch zu einem guten Ende seiner Laufbahn; durch Gönner, die seine leidenschaftlich freiheitliche Gesinnung schätzten. 
Aus einem Taugenichts der Schweiz wurde ihr bester Staatsdiener und die Mutter erlebte noch seine Sicherung in einem allseits geachteten Beruf. 

„Ich habe mich zu einem bewussten und besonnenen Menschen herangebildet.“

Nur für seine LIEBES-Beziehungen erreichte er keine Lösungen. Vielleicht hemmten persönliche Mängel. (Eine hochverehrte Dame schrieb über ihn an eine Freundin: “Er hat sehr kurze kleine Beine, Schade! Denn sein Kopf wäre nicht übel, besonders zeichnet sich die außerordentlich hohe Stirn aus.“) Vielleicht hemmte auch eine starke Bindung an die Mutter ...

Es blieb bei der Ehe- und Kinderlosigkeit. Hat ihn dieser Mangel zu der feinsinnigen Beobachtung des Knaben geführt, die zu dem kleinen Gedicht von KELLER wurde? 
Vielleicht.

Vielleicht ist das Gedicht auch der energische Hinweis auf seine Lebensüberzeugung: Es gibt für uns nichts zu wissen als das Sichtbare, Anfassbare, Hörbare, das die Natur uns bietet. Das ist so schön, dass es ausreicht, um begeistert zu leben. – Auch wenn danach nichts mehr kommt.

Alles, was wir uns über die Natur hinaus ausdenken, ist nach Ansicht des Dichters GOTTFRIED KELLER reine – wahrscheinlich unwahre – Spekulation.

War die Frage der Kinderaugen auch GOTTFRIED KELLERS eigene geheime Frage?: WOZU sind wir hier?

Der Dichter hat seine Antwort auf diese Frage gefunden: 
„Trinkt, o Augen, was die Wimper hält von dem goldnen Überfluss der Welt!“ 
Mehr bleibt uns für ein schönes Leben nicht übrig.  

Foto: Copyright: istockphoto/Grafissimo

Donnerstag, Dezember 22, 2016

EIN  SPIELZEUG  DER  DEUTSCHEN SPRACHE:
                               Die VOR-Silben



Sprache ist ein Ausdruck unserer Gefühle, unserer Gedanken und unseres Willens.

Da alles auf der Erde miteinander kommunizieren will und muss, haben auch unsere nahen Verwandten, die Tiere, Sprachen gefunden, die wie unsere Sprache, Laute hatten:  zischen, brummen, bellen, trompeten, singen.
Solche Sprachen verstehen wir nicht. Wir mussten den Lauten eindeutige  Inhalte geben, wenn wir miteinander jagen wollten oder etwas miteinander verhandeln mussten.

Wann wir Menschen unsere Sprache erfanden, weiß niemand genau. Aber dass die von uns erfundene Sprache ein ständig wachsendes und sich veränderndes Element ist, spüren wir ständig, z.B. am gegenwärtigen munteren Eindringen von Anglizismen in unsere Alltagssprache.


In SUMER, dem fruchtbaren Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris, fanden Archäologen Gedichte, als Texte in Ton geritzt, die zweieinhalb tausend Jahre vor Chr. entstanden. Die Gedichte gefallen uns noch heute und berühren uns mit ihrer Leidenschaft.

Geschrieben wurden sie in einer Keilschrift, mit der die Sumerer sowohl Waren-Begleitlisten für ihren Handel wie zärtliche Gedichte für ihre Himmelsgöttin schrieben. Solche Gedichte hat man gefunden.

Wenn eine Sprache Gedichte machen und aufschreiben kann, ist sie schon ziemlich fein und ausgereift. Vor allem hat sie parallel zu einer mündlichen Sprache bereits eine Schriftsprache entwickelt. Bei den Sumerern war es eine Keilschrift. Diese Schrift zu verstehen, eine Mischform zwischen Zeichen und Bild, war eine anspruchsvolle Aufgabe der modernen Sprachwissenschaften.

Mündliche, dann schriftliche Sprache sind eine hohe schöpferische Leistung des Menschen; wahrscheinlich geformt durch die Umgebung, in der die Menschen lebten, für die sie, sich anpassend, sprachliche Benennungen brauchten.

Lebten Stämme in Bergen zwischen Schluchten und Wäldern, brauchten sie Wörter für diese Dinge. Lebten sie in Wüsten mit Sand und Steinen, mussten sie dafür Wörter und Beschreibungen finden.  

So entstanden wohl verschiedene Sprachen der einzelnen Stämme, je nach den Lebensräumen der Sprechenden.
Im frühen europäischen Raum lebten viele Stämme mit ihren Stammes-Sprachen nebeneinander.
Annäherungen der Stammessprachen entstanden bei Kontakten zwischen ihnen.

Schließlich bildeten sich in sehr langen historischen Prozessen in Europa zwei dominante Sprachgruppen aus, die sich in ihren Eigenarten deutlich erkennbar unterschieden: Die LATEIN basierten Sprachen und die GERMANISCH basierten Sprachen.
Zu den romanischen Sprachen gehören Französisch, Spanisch, Portugiesisch, Italienisch u.a.  Zu den germanischen Sprachen Deutsch, Englisch, Holländisch, Skandinavisch u.a.; mit ihren jeweiligen Eigenarten.
Eine auffällige Eigenart im Wortschatz der deutschen Sprache im Vergleich mit den romanischen Sprachen ist eine deutlich geringere Anzahl von Stamm-Verben im Deutschen (gehen, stehen, sitzen, kommen, laufen etc.), mit einer höheren Anzahl von verwendeten VOR-Silben.
Eine Ursache für die hohe Anzahl von Stammverben in den Romanischen Sprachen ist ihre Herkunft aus dem Latein der Römer. Die Römer eroberten seit Cäsar große Teile von Westeuropa. Die Eroberten, ein buntes Gemisch  aus Germanen, Kelten, Etruskern, Iberern nahmen die Volkssprache der römischen Sieger, das sogenannte Vulgär-Latein, offenbar willig an.
Die Römer waren exakt denkende Realisten. In ihrer Sprache prägten sie für jede Handlungs-Variante ein eigenes Verb, das die Handlung eindeutig machte. Damit entstand eine Menge von Stammverben.
Im Deutschen blieb die Anzahl der Stammverben deutlich geringer.  Das führte aber nicht zu einer Verarmung der Ausdrucksmöglichkeiten, sondern zu Bedeutungserweiterungen der Stammverben durch eine Besetzung mit VOR-Silben.                                                            
Mit dem Voransetzen eines winzigen Sprachteils (ver-, zer-, ent-, be-, etc.) gelang und gelingt oft eine Handlungsbeschreibung, die differenzierter ist als bei den romanischen Nachbarsprachen.
Von einem einzigen Stamm-Verb im Deutschen leiten sich häufig fünf und mehr durch VOR-Silben variierte Verben mit ganz verschiedenen Bedeutungen ab. Aus rd. 80 häufig verwendeten Stammverben können auf diese Weise im Deutschen ca. 1200 abgeleitete Verben entstehen.

Beispiel:                       SETZEN:
- entsetzen                     (erschrecken, sich fürchten)
- beisetzen                     (beerdigen)
- übersetzen                    (in andere Sprache/ oder über ein Gewässer setzen)
- besetzen                       (erobern/ oder in einer Firma platzieren)
- ersetzen                      (Schaden gutmachen)
- aussetzen                      (pausieren/ oder verstoßen)
- einsetzen                       (installieren)
- absetzen                        (beenden/oder degradieren)
- durchsetzen                    (sich behaupten, übertrumpfen)
- umsetzen                       (realisieren)
- freisetzen                      (lösen, entfesseln)
- draufsetzen                     (jmd. sitzenlassen, enttäuschen)

 BRINGEN:                      STOSSEN:                              
- verbringen                       - verstoßen
- mitbringen                       - aufstoßen
- umbringen                       - abstoßen
- beibringen                       - umstoßen
- unterbringen                    - ausstoßen                  
- durchbringen                   - zerstoßen

Noch mehr Flexibilität ergibt sich durch die Doppelsinnigkeit mancher Verben aufgrund der gewählten Vor-Silbe. Einige der angeführten Beispiele zeigen: Der Sinn des Stammverbs kann sich mit einer Vorsilbe völlig verändern.
Das Deutsche liebt es, das Seiende zugleich mit dem Werdenden zu denken und auszudrücken („wegdenken“). Diese kühne gedankliche Kombination lässt sich mit einer Vor-Silbe realisieren.

 HUGO v. HOFMANNSTHAL schreibt dazu:
„Dass wir Deutschen das uns Umgebende als ein Wirkendes („Die WIRKLICHKEIT“) bezeichnen, die lateinischen Europäer es Dinglichkeit („La REALITE“) nennen, das zeigt die fundamentale Verschiedenheit des Geistes und dass jene und wir in ganz verschiedener Weise auf dieser Welt zuhause sind.“

Die leichte Formbarkeit der Sprache lässt Gedankenblitzen, plötzlichen Einfällen viel Raum und macht das Erlernen oder gar Beherrschen des Deutschen nicht leicht.
MARK TWAIN hat sich bei einem „Bummel durch Europa“ humorvoll über die „schreckliche deutsche Sprache“ beklagt. Die Neigung, das Verb ganz nach freiem Willen, vielleicht in die Satzmitte oder endlich am Schluss eines langen Schachtelsatzes zu setzen, ist aus angelsächsischer Sicht ein „schreckliches“ Hindernis beim Lesen und Verstehen.
Das nervt auch manche deutsche Leser. Deutsche Prosa wirkt oft nicht schön, sondern kompliziert, durch die große Freiheit im Satzbau, die das Deutsche erlaubt.
Deshalb wird Prosa vom Durchschnitt der Menschen auch kaum mehr gepflegt. BRIEFE werden erleichtert durch Twittern ersetzt. Je kürzer, je besser.
Die Stimmung vermittelnde Vielfalt der Vor-Silben wird viel einfacher erreicht durch ein Smiley. – Lustiger!

Lust an der Sprache fördert ihre Fortentwicklung. Sprache ist (auch) MODE, die mit Lust aufgegriffen, wie ein Spielzeug wieder weggelegt und vergessen wird. Wer hätte vor 10 Jahren verstanden, was es heißt: „Ein SELFIE“ machen? Heute kann das niemand mehr missverstehen und in 10 Jahren wird man den Ausdruck vielleicht als albern abgelegt haben.
Sprache folgt oft einer Mode. Aber Sprache muss in jedem Stadium ernst genommen und als sinnvoll angesehen werden, auch in dem „altmodischen“ Stadium mit einer Vorliebe für Vor-Silben.  Diese Vorliebe wird einen Grund gehabt haben – Warum und wie entstand sie?...
Wie kann aus dem Stammverb ZÄHLEN die Variation „Erzählen“ geworden sein? Was verbindet die beiden Wörter mit so unterschiedlicher Bedeutung auf gleichem Stamm?
Eine Vermutung: Erzählen ist eine Lieblingsbeschäftigung der Menschen; vor allem bei Menschen, die Zeit haben.
Etwas „erzählen“ bedeutet, mehrere Begebenheiten und Szenen erzählend an einander zu reihen.  Dabei öffnet sich ein Erzählraum. Dieser Erzählraum ist ein Zeitraum außerhalb der realen Zeit. Wir versetzen uns in ihn hinein und erwarten mit Spannung seinen Inhalt und Verlauf.
Dieser Zeitraum ist der Kern des Erzählens.
In ihm ist alles enthalten, auf das wir gespannt sind. „Erzählen“ ist das Aufzählen von Ereignissen und Szenen. In einem  Zeitraum außerhalb der Zeit.

Nicht für alle Wortschöpfungen mit Vor-Silben lässt sich leicht eine Erklärung finden für eine Sinn-Veränderung durch VOR-Silben. Welche Beziehung besteht zwischen SETZEN und „entsetzen“? oder zwischen HALTEN und „unterhalten“, zwischen BRINGEN und „umbringen“ ?                                                  
Hier hat die Sprachphantasie gearbeitet und das Publikum ist ihr gefolgt. Die Allgemeinheit muss wohl gespürt haben, dass irgend eine verdeckte Beziehung zwischen den beiden Verb-Formen bestand. Welche? - Man findet die Beziehungen nicht, ohne fest zu überlegen.

Auffällig ist die Möglichkeit einer positiven oder negativen Färbung der Vorsilben. „Zer-, ver-, ent-„scheinen für die Handlung eine negative Tendenz anzuzeigen.  Hört man aber die Wörter: „verlieben, verloben“, assoziiert man damit etwas Positives. – Sollte das dritte Wort der Reihe: „ver-heiraten“ einen dunklen Schatten werfen?
(-Und was bedeutet eigentlich das Wort “heiraten“? – Hei-RATEN?)

Neue, spontane Wortschöpfungen begegnen uns ständig (BREXIT). Ob sie dauerhaft Bestand haben, ist offen. Das hängt von der Zustimmung der Allgemeinheit, von der Mode, von der langfristigen Brauchbarkeit der Wortschöpfungen ab. Damit bleibt jede Sprache lebendig.
Da die deutsche Sprache nicht von einer „Academie Francaise“ auf ihre Reinheit überwacht wird, wächst sie wild in hässlichen und auch in schönen Formen, im Geist der Zeit.  Der deutsche Wortschatz wird von ständigen Zuwanderungen und Abwanderungen betroffen sein; so wie die Zeiten sich ändern.

Der schöne Reichtum der deutschen Sprache, die so sensibel auf Gefühle und Gedanken des Sprechenden eingehen kann, entsteht nicht zuletzt durch das unbegrenzte muntere Spiel mit den VOR-Silben.
Auch in schlechten Zeiten wird die Lust am Sprachspiel nicht vergehen. Die Sprache spielt uns Formen zu, die uns überraschen und gefallen. Daran ist das Deutsche reich.
Die Hauptsache ist, dass wir mit unserer Sprache ausdrücken können, was uns bewegt, beglückt und bedrückt. Können wir unser Glück zum Ausdruck bringen, fühlen wir es noch intensiver. Können wir eine Bedrückung formulieren, sind wir schon ein Stück weit von ihr befreit.
Die spielerische Verwendung von VOR-Silben hilft uns oft, das richtige Wort zu finden. („Ich werd‘ verrückt!“)

Dienstag, Juni 14, 2016

ZWEI ÜBERFAHRTEN - „Überfahrt am Schreckenstein“ und „Einschiffung nach Kythera“

Die eine Überfahrt machen alle Menschen. Die andere Überfahrt wünschen sich viele, aber sie bleibt ein Traum.Wo die beiden Überfahrten stattfinden, zeigen zwei bekannte Gemälde. die in einem Abstand von mehr als hundert Jahren entstanden sind. Besonders wegen des Abstands ihrer Entstehung in zwei historisch und kulturell unterschiedlichen Epochen reizen die Gemälde, die beide eine Überfahrt im Schiff zum Thema haben, zu einem Vergleich. 


„Überfahrt am Schreckenstein“ 

1834, Gemälde von LUDWIG RICHTER (1803 – 1884)


Als erstes fragt man sich wohl: 
Ist die ‚Burg Schreckenstein’ Wirklichkeit oder handelt es sich um Fantasie und Einfall eines Malers?
Die Burg mit dem Namen ‚Schreckenstein’ gibt es wirklich, auf einem steilen Felsen über der Elbe im heutigen Tschechien, früher Böhmen. Sie wurde bereits um 1300 zur Überwachung des wichtigen Schifffahrtweges erbaut.
Die malerische Burganlage, mehrfach bei Angriffen beschädigt und wieder ausgebaut, schließlich auch mit einer Gaststube, wurde in der späten Romantik zum beliebten Sujet von unbedeutenden und von bedeutenden Malern wie CASPAR DAVID FRIEDRICH und LUDWIG RICHTER.
LUDWIG RICHTER, der die Elb-Landschaften intensiv erwanderte, besuchte um 1834 auch die Burg Schreckenstein auf dem Felsen, liebte aber besonders ihren Anblick vom Fluss aus in steiler Perspektive.
Man kann annehmen, dass eine Fahrt auf dem Fluss bei ihm die Inspiration zu seinem Gemälde ausgelöst hat. 
Aus der Inspiration entwickelte RICHTER offensichtlich ein Programm für sein Gemälde, das man meint, auf den ersten Blick erkennen zu können: 
In einem Kahn versammelt der Maler eine Gesellschaft aus ausgewählten Lebensaltern, die bei ihrer Überfahrt im Anblick des Schreckensteins in ganz verschiedenen Posen schweigend in ernste Gedanken verfallen. RICHTER fordert in seinem Bild den Betrachter heraus, Posen und Mimik der dargestellten Personen zu deuten.
Für seine Idee wählt RICHTER sieben Lebensalter aus, von denen das jüngste Alter, ein kleiner Junge, verträumt über den Bootsrand lehnt und einen Zweig spielend durchs Wasser zieht. 
Als zweites Lebensalter setzt der Maler, in die Mitte des Kahns, ein innig sich zugeneigtes Liebespaar. Hinter den beiden Liebenden schaut eine junge Mutter mit ihrem Kind im Arm neugierig auf die Verliebten, als denke sie daran, ob diese beiden wohl die gleichen Erfahrungen wie sie in ihrer Mutterschaft machen würden. 
Eine einzige Person lässt der Maler im Kahn aufrecht stehen. Ein kecker junger Wandersmann betrachtet mit herausforderndem Blick den vor ihm aufragenden Schreckenstein. An seinem Hut stecken Blumen. Zu seinen Füßen sitzt ein junger erwachsener Mann, der aber gar nicht keck, sondern mutlos gestimmt seinen Kopf in die Hand stützt.
Das Heck des Schiffes füllt ein älterer, bärtiger Landmann mit seiner Pfeife im Mund. Sein Blick richtet sich ruhig auf den Felsen mit der Burg.
Im Bug des Schiffes thront ein alter Harfner mit Schlapphut und seinem großen Instrument. Sein Ohr an die Saiten gelehnt, horcht er mit Ernst den Tönen nach, die seine Finger greifen. In seinem weiten schwarzen Umhang und Hut, mit weißen Locken, wirkt er bedeutend wie eine Märchenfigur. Die Töne der Harfe scheinen die einzigen Laute in dem Bild. Alle Personen schweigen, niemand lächelt, jeder wirkt versunken in sein Inneres, beschäftigt mit eigenen Gedanken.
Worüber?RICHTER sagt es überdeutlich mit der Komposition und dem Titel seines Gemäldes: Es geht im Bild wohl um den Schrecken vor dem Tod. 
Die Überfahrt zum Schreckenstein – zum Stein für das Grab - ist die letzte und unvermeidliche Fahrt aller Menschen am Schluss der Lebensreise.
Noch in der deutschen Romantik geboren (1803), verwendet LUDWIG RICHTER in seinem Bild romantische Symbole, um den Lebenslauf des Menschen und sein Ende darzustellen: das Wasser, den Kahn, die Fahrt, den Fels.
Mit solchen Symbolen kann der Maler die Szene für seine Bild-Idee komponieren. Die Idee heißt wohl: Wie reagieren Menschen in Mimik und Gestik auf Gedanken an den Tod? Deutlich trennt RICHTER dabei nach den Lebensaltern. Dem kleinen Jungen, den jung Verliebten, der jungen Mutter mit ihrem Kind traut RICHTER keine Belastung durch Todesgedanken zu; sie sind mit ihrem aufsteigenden Leben beschäftigt. 

Den Knick setzt der Maler mit der Gestik des kecken jungen Wandersmanns. Dem Jüngling ist der Schreckenstein mit seinem Hintergrund an Assoziationen bei dieser Überfahrt wohl ins volle Bewusstsein gerückt. Dem Schreckenstein stellt der junge Mann mit herausfordernder Mimik seinen Lebensmut und -Übermut entgegen. 

Wie genau RICHTER die Gestaltung seines Bildes kalkuliert hat, zeigt ein Vergleich zwischen der Pose des jungen Mannes und dem Umriss der Burg auf dem Felsen. Wie der Jüngling aufgereckt im Kahn steht, reckt sich der Bergfried über die Nebengebäude der Burg; mit steilem Abfall nach links, entsprechend dem zusammengekauerten Mann vor dem Jüngling. Ein kleinerer Neuanstieg links im Gemäuer entspricht der Spitze der Harfe im Kahn. Der Umriss im Kahn ist gespiegelt im Umriss der Burg.
Das Gegenteil zu dem aufrecht stehenden jungen Wandersmann mit Blumen am Hut ist der gekrümmte Erwachsene, dessen Hand den Kopf stützt. Der Ausdruck seines Gesichts ist leer; vielleicht schaut er mit Schwermut dem kleinen Jungen und seinem Spiel zu.Das Heck des Kahns füllt ein älterer, bärtiger Landmann mit seiner Pfeife im Mund. Sein Blick richtet sich ohne Unruhe auf den Felsen mit dem Schreckenstein. 
Der Harfner, der am Kiel des Schiffs sitzt, schmückt das Gemälde am meisten; seine imposante Person an der Harfe scheint eine ganze Geschichte zu erzählen. Spielt er sich an seiner Harfe die Geschichten seines Lebens vor oder die zukünftigen Geschichten, von denen er nichts weiß und an denen er mit dem Zupfen seiner Saiten herumrätselt? Wäre sein Spiel fest und fröhlich, könnte es den bedrückten Mitfahrer zu seinen Füßen aufmuntern. Sein Harfenspiel scheint träumerisch zu sein. Sicherlich fällt ihm ein, dass er sehr bald vor dem Schreckenstein stehen wird. Und dann?
So oder ähnlich ließe sich Gestik und Mimik der verschiedenen Lebensalter im Kahn deuten.
LUDWIG RICHTER stellt dem Betrachter hier wohl seine eigene Gestimmtheit in Variationen vor. Dabei geht RICHTER von seiner Erfahrung als Künstler aus. Nach seiner Überzeugung übt die reale Welt mit ihren Erscheinungen einen Stimmungsreiz auf die Seele des Künstlers aus, den dieser in seinem Kunstwerk wider gibt. (Zitat RICHTER: „Die Kunst ist nur der beseelte Widerschein der Natur aus dem Spiegel der Seele“) 
In seinem Gemälde erscheint also nicht die Wirklichkeit, sondern deren Spiegelung in der Seele des Malers LUDWIG RICHTER. 

Es wirkt so, als habe der Anblick der Burg auf dem Felsen bei RICHTER eine melancholische Nachdenklichkeit ausgelöst, mit der er sich im Bild auseinander setzt. Anzeichen einer melancholischen Stimmung finden sich im Bild wieder: Auffällig ist die Bewegungslosigkeit: die Posen der Personengruppe wirken wie auf einen Schlag erstarrt. In der Farbgebung des Bildes dominieren gebrochene Halbtöne. Statt einem malerischen Gewebe von Farben und Schatten wird das zeichnerische Mittel von steifen Konturen gewählt. Die Gesamtstimmung des Gemäldes ist früh abendlich gedämpft. Lebenslust ist dem Gemälde nicht zu entnehmen.

Neben den verhaltenen Emotionen im Bild fällt die Rationalität der Komposition auf. Die Komposition des Bildes wirkt erdacht, nicht erlebt. Rationalität ist zwar ein bewährtes Mittel zur Abwehr von bedrängenden Emotionen, aber die Emotionen hier erscheinen zu gemäßigt, um dieses Mittel nötig zu haben. Die Rationalität der Komposition entspringt wohl eher einem psychologisierenden Drang des Malers, verschiedene Gedanken über den Tod, durch Aufspaltung in Lebensalter, als Varianten zu erforschen. 

Für die Stimmung des Gemäldes spielt seine Entstehungszeit eine Rolle. Das Gemälde entstand 1834, im so genannten deutschen BIEDERMEIER (Um 1815-1848). Das Biedermeier war eine Folge der damaligen politischen Verhältnisse in Deutschland. Nach den Siegen des Emporkömmlings NAPOLEON über die deutschen Kleinstaaten, seinem Ritt nach Russland und seiner endgültigen Niederlage in WATERLOO (1815) setzten sich die alten Mächte Europas auf dem WIENER KONGRESS zusammen unter Führung des österreichischen Außenministers Fürst von METTERNICH. Man wollte die Uhr zurück drehen und die vor-revolutionären Verhältnisse in den europäischen Monarchien wieder herstellen.

Der Kongress tagte und tanzte endlos, aber erzielte nur sehr schwer Übereinkünfte. 
Um wenigstens die breite Bevölkerung als Stimmungsstörer für den Kongress auszuschalten, veranlasste METTERNICH eine Zensur für alle öffentlichen politischen Meinungsäußerungen.
Die Intellektuellen und der kleine private Mann hatten von da an öffentlich über Politik zu schweigen.
Geduckt unter dieses Verbot und entmutigt durch die militärischen Niederlagen, hatte sich in Deutschland eine Rückzugsbewegung in die Bescheidenheit der reinen Privatsphäre entwickelt, der man den Spott-Namen ‚Biedermeier’ anheftete. Man zog sich zurück in Heim und Familie. Man pflegte Garten und Stube, bevorzugte kleine unkonventionelle Geselligkeiten, liebte und entwickelte Hausmusik, gern am Klavier, das im Zimmer stand, und sang gefühlvolle Lieder eines großen Mannes: FRANZ SCHUBERT. GOETHE und BEETHOVEN sind Namen der Epoche.
Eine bequeme schlichte – schöne - Möbelkultur entstand für einen gemütlichen Feierabend, bei dem man seine eigenen Gedanken schweifen lassen durfte. Der deutsche Begriff: "Gemütlichkeit" ist wahrscheinlich in dieser Epoche entstanden. 
Das Gemälde ‚Schreckenstein’ von LUDWIG RICHTER trägt deutliche Spuren der Biedermeier-Zeit. Das Interesse des Malers gilt der innerlichen Verfassung seiner Personen, deren Mimik und Gestik einen vagen Aufschluss geben über ihre Gedanken vom Tod. 
Das Thema ist so unpolitisch wie möglich, trägt die leise Melancholie der existentiellen Frage und ist sehr ordentlich gemalt.
Man merkt, RICHTER will mit seinem Bild verstanden werden. Das Erleben des Bildes tritt zurück. Der Deutlichkeit seiner Bildidee entspricht die Klarheit des Stils. In realistischer Manier erscheinen Personen, Kleidung, Landschaft, Dinge. Beinahe schon fotographisch genau wird der ruinöse Zustand des Felsens, seine Platten, Abbrüche und Überhänge, die Wasser-Rinnen, das kristallharte Material des Felsen-Kerns im Gemälde sichtbar. 
Zur Entstehungszeit von RICHTERS Bild hatte sich in Deutschland der romantische Stil zu einem stimmungsvollen Realismus verändert, bei dem Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Darstellung angestrebt wurden. 
Dieser gefühlsgefärbte Realismus am Ausgang der Romantik kam RICHTER nach Ausbildung und Neigung entgegen. Seine Ausbildung hatte er bei seinem Vater, einem Zeichner und Kupferstecher, begonnen und vervollständigt durch ein Studium an der Kunstakademie in Dresden. Den Schwerpunkt seiner Begabung zeigten zunehmend seine zeichnerischen 
Fähigkeiten als Buchillustrator. Um 1840 illustrierte er eine Ausgabe: „Volksmärchen der Deutschen“, die als eine der schönsten Buch-Illustrationen des 19.s. gilt und RICHTERS Ruhm begründete. 
Die illustrative Begabung RICHTERS deutet sich auch in dem Gemälde ‚Schreckenstein’ an. RICHTER verbindet hier Realistik mit betonter Symbolik; er illustriert seine Idee. An dem auffälligen Arrangement im Kahn erkennt man sehr bald seine Absicht, die Personen zu einer Spiegelung von Gedanken zu benutzen. Eine leicht erkennbare konzeptionelle Idee ist nicht immer eine Qualität für eine Malerei. Der Betrachter soll ja selbst nach dem Geheimnis eines Bildes und seiner Bedeutung forschen und das zur Erhöhung seines Genusses herausfinden.
Mangel an Geheimnis, zu deutlicher Hinweis auf eine Bild-Idee, Bevorzugung der zeichnerischen Mittel bis zur Erstarrung, könnten als Einschränkung für die Qualität des Gemäldes von LUDWIG RICHTER angesehen werden.
Seine Gedanklichkeit verführt ihn dazu, das Gemälde bei dem Betrachter zu einem Lehrstück für Interpretation werden zu lassen. Erleben kann man dieses Bild nicht.

Einen deutlichen Kontrast dazu bietet in vielerlei Hinsicht das Gemälde von ANTOINE WATTEAU:


„Einschiffung nach Kythera“  

um 1714-17, Gemälde von ANTOINE WATTEAU (1684 -1721)


Als eine Gemeinsamkeit haben beide Gemälde eine Überfahrt in Form einer Schifffahrt zum Thema.
Zwischen der Entstehung beider Gemälde liegen mehr als hundert Jahre.

ANTOINE WATTEAU, der französische Maler, hat die ‚Einschiffung nach Kythera’ am Ausgang des französischen Barock, in der Periode des Rokoko gemalt.Der Stil des französischen Barock war ein Klassizismus. Charakteristisch für seine Kunstwerke war die Vorliebe für Motive und Themen der Antike.

LUDWIG XIV. (1638-1715) führte mit seinem Lebensstil den französischen Barock zum Höhepunkt. Unter der Regierung des absolutistisch auftretenden ‚Sonnenkönigs’, - Vorbild eines bewunderten Monarchen in ganz Europa -, hatte sich eine höfische Kultur entwickelt, die absolut verschwenderisch, aber kulturell und politisch fruchtbar war. Man nannte diese Epoche später das ’Ancien regime` der Bourbonen. 
Der exzellente, aber auch öfter die Partei wechselnde französische Diplomat TALLEYRAND (1754 -1834) schrieb dem ‚Ancien Regime’ den vielleicht schönsten Nachruf: „Wer das Ancieme Regime nicht kannte, wird niemals wissen können, wie süß das Leben war.“
Ein Geschmack von dieser Süße findet sich in dem Gemälde WATTEAUS ‚Einschiffung nach Kythera’; ebenso die charakteristische Wahl eines antiken Motivs. 
Die kleine Insel Kythera, vor dem südöstlichen Zipfel des Peloponnes, gibt es wirklich. Sie gehört heute zum Staat Griechenland und ist ein ödes Eiland, dessen Bewohner auswandern. 
Welchen Grund hatte WATTEAU, den Namen dieser struppigen Insel zum Motiv für ein Gemälde zu machen? Die Vorliebe des französischen Barock für mythologische Motive der Antike könnte ein Hinweis sein. 

KYTHERA war in der Antike berühmt!
Die Insel hatte einen großen Namen als mythologischer Ort. Sie soll (-konkurrierend mit ZYPERN-) der Geburtsort der APHRODITE, Göttin der Schönheit und Liebe, gewesen sein. 
Die Geburt der Aphrodite schrieb man dem Schaum um die abgehauenen Genitalien des URANUS, Urvater der Götter, zu. Seine Söhne hat ten sich mit Abschlagen seines Glieds für alle Grausamkeiten des Vaters gerächt. Das abgehauene Glied fiel bei Kythera ins Meer und verschaffte der Insel ihren mythologischen Ruhm. Die „Schaumgeborene“ Venus/Aphrodite wurde hier geboren!
Der Mythos der Insel könnte für Watteau reizvoll gewesen sein, weil er den leisen Wandel seiner Epoche und ihrer Sehnsüchte spürte.  Nach fast 50-jähriger Regierungszeit war LUDWIG XIV. 1715 gestorben. 
Er war als Kriegsherr ebenso maßlos gewesen wie als Veranstalter von Festen in seinem Schloss in Versailles. Fast allabendlich ließ er dort Theater oder Feste arrangieren, zur Unterhaltung des Hochadels, um diesen von Kritik an seinem selbstherrlichen Regierungsstil abzulenken. Nun war LUDWIG XIV. tot. Sein Urenkel übernahm nach kurzer Übergangszeit als LUDWIG XV. die Regierung.
Da waren alle Spiele gespielt und alle Feste gefeiert und zur Gewohnheit geworden. Das achtzehnte Jahrhundert langweilte sich!
Jetzt verlangte das gelangweilte Jahrhundert vom Künstler etwas ganz Neues: Er sollte zaubern, neue Welten schaffen, die jenseits der sich immer wiederholenden langweiligen Realität lagen.
Der sensible WATTEAU, (- todkrank an TBC- ) fühlte sich in diese Wunschvorstellung ein.
Er schuf eine Bilderserie, die zwar keine geschlossene Handlung erkennen ließ, aber die erwartungsvolle und festliche Stimmung einer noblen Gesellschaft zeigte, die im Begriff war. sich auf die „Liebes-Insel“ KYTHERA, wie Watteau sie nannte, einschiffen zu lassen. 
In seiner Bilderserie wurde erfüllt, was sich das gelangweilte 18, Jahrhundert gewünscht hatte: Die Vorgaukelung eines glücklichen Landes für konfliktfreie, freie Liebe, die Erfüllung einer Sehnsucht pur nach einem irdischen Paradies. 
WATTEAU hatte in seinen Gemälden diesen Paradies-Klang zur Darstellung gebracht, und das auf höchstem künstlerischen Niveau. 
Bei Vorlage seiner Bilder vor der königlichen Akademie verstanden die Gutachter nicht den Titel WATTEAUS „Einschiffung nach Kythera“. Sie veränderten den Titel der Gemälde in „Fetes galantes“ und unter diesem Namen wurde ihr Schöpfer JEAN WATTEAU weltberühmt. Die prächtigste Fassung der Gemälde kaufte Friedrich der Große an. Sie befindet sich heute in den Gemäldesammlungen von Potsdam. 
Auf der Berliner Fassung des Gemäldes findet man die prächtigen Festroben der Abendgesellschaften in Versailles wieder. Zwischen der seiden gekleideten Gesellschaft flattern auf dem Gemälde kleine Engelsbuben umher. Am Bildrand rechts erhebt sich eine Marmorstatue, die sich weich wie ein lebendiger Körper über anschmiegsame Engelchen beugt. Im Dunst der Ferne liegt schemenhaft eine prächtig aufgerüstete Barke. vor der sich Paare zum Einstieg versammelt haben und kleine Engel um den Mast flattern. Bei solcher Mischung von himmlischem und irdischem Publikum konnte der Himmel nicht weit sein. 

Die Farbkraft des Gemäldes ist von bezauberndem Schmelz. Den farbigen Reichtum der Kostüme in Verbindung mit den Vegetationsfarben nutzt WATTEAU, um ein dichtes Gewebe von leuchtenden Partien und dunkleren Schatten zu erzeugen. Im Kontrast trennt sich eine helle, undendliche Ferne von einem dunkel umfassten Vordergrund. Die Süße der Gefühle der Gefühle drückt sich in der Geschmeidigkeit der ineinander verschlungenen Personengruppen aus. Die Ausstattung des Gemäldes zeigt, dass die ‚Einschiffung nach KYTHERA’ ein Traum-Land darstellt, eine ‚Liebes-Insel’ des 18. Jahrhunderts, eine Erscheinung jenseits aller Realität - wie es sich die Gesellschaft einer ausgehenden verschwenderischen Epoche gewünscht hatte.
Mit solchen ästhetischen Illusionen vertrieb sich die feudale Gesellschaft ihre Zeit bis zur großen Revolution (1789) – D
ann stieg sie aufs Schafott.

In seinem Gemälde arrangiert WATTEAU in einer lockeren Ordnung eine Art von S-förmig geschwungener Bühne über einem struppigen Wiesenhügel. An der flach auslaufenden Neigung der Bühne hat sich eine größere Menge von Personen vor dem Schiff versammelt. Auf dem oberen Schwung des Wiesenhügels hat WATTEAU vier Liebespaare platziert, deren Gestik, Mimik und Kostüme für den Betrachter deutlicher zu erkennen sind als bei der Menge unten

Bei diesen Liebespaaren fallen die zärtlichen galanten Gebärden auf. Beim einen Paar liegt die Dame im Schoß ihres Gefährten, der anderen flüstert ihr Partner liebevoll etwas zu. Die dritte wird vorsichtig vom Lager gehoben und die vierte von ihrem Kavalier galant um die Taille gefasst, um mit zu gehen zum unten wartenden Schiff.
Hier fixiert WATTEAU einen kulturellen Fortschritt der ausgehenden feudalen Epoche: den wachsenden Respekt und die erhöhte Achtung vor der Frau, der der männliche Partner mit entsprechend galantem Verhalten begegnete. 
Das männliche Idealbild des ausgehenden Barock war der geistvolle, feinsinnige Höfling mit sensiblem Respekt vor dem weiblichen Geschlecht.
Auffällig an den Paaren im Bild sind die kostbaren Kostüme, die mit ihrer seidigen Pracht in den Ballsaal eines Schlosses zu passen scheinen, nicht aber auf einer struppigen Wiese zu erwarten sind!
Mit dem Arrangement einer festlich kostümierten Gesellschaft in freier Natur erspürte WATTEAU die neue Stimmung des Rokoko. Die Darstellung von galanten Festen in der freien Natur gefiel der verwöhnten adeligen Gesellschaft als Abwechslung vom Hofleben sehr.
Die ‚Fetes Galantes’ wurden wohl in Wirklichkeit selten in der ungezähmten Natur ausgeführt, aber die feudalen Damen und Herren spürten entzückt den Anreiz dazu. 
Der Kritiker der höfischen Künstlichkeiten, JEAN JAQUES ROUSSEAU (1712 -1778) war nicht mehr weit mit seinem Mahnruf an die Gesellschaft:
„Zurück zur Natur!“

Diese Tendenz einer neuen ambivalenten Zuwendung zur freien Natur glaubt man dem Gemälde entnehmen zu können - mehr nicht.
Das Gemälde behält das Geheimnis seiner Handlung für sich. Es verrät dem Betrachter wenig und lässt ihm damit die Freude, selbst etwas zu entdecken vom Geist dieser fernen Epoche.

Im Vergleich spiegeln die beiden Gemälde von LUDWIG RICHTER und ANTOINE WATTEAU den Geist ihrer Entstehungszeiten: Das Gemälde von Watteau den traumhaften Lebensgenuss des französischen Ancien-Regime; das Gemälde von LUDWIG RICHTER die gedämpfte Melancholie der Biedermeier-Epoche in Deutschland.

Ohne Zweifel spielt das Talent des jeweiligen Künstlers die entscheidende Rolle für die QUALITÄT eines Kunstwerks. 
Genie und Begabung des ANTOINE WATTEAU, des größten Malers im französischen Rokoko, wird von LUDWIG RICHTER in keiner Weise erreicht.

Aber beide Künstler setzen sich in ihrem Gemälde mit der gleichen Frage auseinander - der Frage, wie man sich ein dauerhaft gutes Leben schaffen könnte. 

LUDWIG RICHTER scheint die Grundbedingung für ein gutes Leben in der ruhigen und bewältigten Akzeptanz des unvermeidlichen Lebensendes zu sehen.
ANTOINE WATTEAU beschreibt, wie man ein gutes Leben mit Illusionen führen könnte, z.B. mit der Illusion einer Reise in ein Land der ewigen harmonischen Liebe.

Mehr Recht auf seiner Seite hat wohl LUDWIG RICHTER. Die Übung am Tod kann dem Leben mehr Ruhe verschaffen … ob die Übung auch gelingt?

Eine LÖSUNG bieten beide Konzeptionen nicht; weder das sich Abfinden mit dem Tod noch die Flucht in Illusionen.

IMMANUEL KANT, der Vernünftige, sagt:
„Aus so krummen Holz, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.“

Das ist eine mögliche Antwort, warum für den Menschen ein beständig gutes Leben kaum möglich ist; er ist aus zu krummem Holz gemacht, als das etwas GANZ Gerades aus dem Leben werden kann.

Wer Glück hat, bei dem überwiegen die glücklichen Ereignisse im Leben die unglücklichen.