Mittwoch, November 27, 2019

SCHÖNHEIT - EIN GEGENGIFT?


300 Jahre v. Chr. schrieb ein griechischer Komödiendichter: „Das Beste im Leben ist, Verständnis für alles Schöne zu haben.“

Ein anderer Grieche dieser Zeit, PLOTIN, rückt die Schönheit in einen Vergleich mit der Sonne: „Nie hätte das Auge jemals die Sonne gesehen, wenn es nicht selber sonnenhaft wäre; so kann auch die Seele das Schöne nicht sehen, wenn sie nicht selbst schön ist.“ Der überragende Philosoph PLATON meinte: „Wenn es etwas gibt, wofür es sich lohnt zu leben, so ist es die Betrachtung des Schönen.“ 2000 Jahre n. Chr. schrieb ein deutscher Dichter über die Schönheit:

                   „Ewig jung ist nur die Sonne, sie allein ist ewig schön.“
                   (Conrad Ferd. Meyer)

Das Schöne hatte wohl zu allen Zeiten einen außerordentlichen Stellenwert. Sein Reiz ist hoch. Aber ähnlich hoch ist die Unsicherheit über seine Art, seine Definition. Was ist denn das Schöne?  Was ist schön?
In unserer Moderne schrieb der irische Dichter JAMES JOICE: „Das Ziel des Künstlers ist die Schaffung des Schönen. Was das Schöne ist, ist eine andere Frage.“    
Es ist eine offene Frage geblieben.
Gibt es Geschaffenes, das alle Menschen, oder fast alle, schön finden? Findet jeder Mensch etwas anderes schön?  Wovon hängt das ab? Von Bildung, Übung, Veranlagung, Stimmung, Zeitgeist, - oder von was? Liegt die Unsicherheit am Schönen selbst?  Ist das Schöne etwas Unfassbares? Ist es gar- keine selbständige Größe, sondern ein wechselnder Reiz? Von was? Das sind recht schwierige Fragen.
Lichtwer Magnus Gottfried, ein deutscher Dichter hat im 18. Jhd. einmal eine recht einfache Antwort darauf gegeben, was schön ist:

                   Schwarz und Weiß

                   Ein Mohr und Weißer zankten sich,
                   Der Weiße sprach zu dem Bengalen:                   
                   "Wär ich wie du, ich ließe mich                   
                   Zeit meines Lebens niemals malen.

                   Besieh dein Pechgesichte nur,
                   Und sage mir, du schwarzes Wesen,
                   Ob dich die spielende Natur
                   Nicht uns zum Scheusal auserlesen?"

                   "Gut", sprach der Mohr, "hat denn ihr Fleiß
                   Sich deiner besser angenommen?
                   Unausgebratner Naseweis,
                   Du bist noch ziemlich unvollkommen.

                   Die Welt, in der wir Menschen sind,
                   Gleicht einem ungeheuren Baume,
                   Darauf bist du, mein liebes Kind,
                   Die noch nicht reif gewordne Pflaume."

                   Sie zankten sich noch lange Zeit,
                   Und weil sich keiner geben wollte,
                   Beschlossen sie, daß ihren Streit
                   Ein kluger Richter schlichten sollte.

                   Als nun der Weiße recht behielt,
                   Da sprach das schwarze Kind der Mohren:
                   "Du siegst, ich habe hier verspielt,
                   In Tunis hättest du verloren."

                   So manches Land, so mancher Wahn,
                   Es kommt bei allen Nationen
                   Der Vorzug auf den Ort mit an,
                   Schön ist, was da gilt, wo wir wohnen

„Schön ist, was da gilt, wo wir wohnen …“ Denken wir heute noch so? Sicher nicht. Wir leben im Zeitalter der Globalisierung und haben uns längst geöffnet für die Schönheiten aus anderen, weit entfernten Kulturkreisen. Chinesische Tusch-Landschaften können uns ebenso entzücken wie Europäische Landschaftsmalereien der Impressionisten. Oft steigert das Fremde sogar den Reiz.  
Neben unserer Verehrung für die Schönheit gibt es auch Vorbehalte gegenüber der Schönheit. Die können bis zu Ärger oder Ablehnung reichen.
Als besonderer Fehler des Schönen wird wohl am häufigsten bemerkt und beanstandet: Die Flüchtigkeit, die rasche Vergänglichkeit der Schönheit.

                   „Schönheit – ist nur eine Leibrente, wenn die Schönheit stirbt, so hört die Zahlung auf, und sie stirbt immer jung.“                   (August  v. KOTZEBUE)

                   „Schönheit ist vergänglich, und wie mit den Jahren sie zunimmt, nimmt sie auch ab.“                    (OVID)

                   „Ein jeder Tag bricht dir was ab von deiner Schönheit bis ins Grab.“                   (GRIMMELSHAUSEN)

                   „Siehe! Da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle, dass das Schöne vergeht, dass das Vollkommene stirbt.“
                   (FRIEDRICH  SCHILLER)

Diese Anklagen sind eigentlich merkwürdig; denn Wechsel und Wandel sind das Charakteristikum unserer Welt; sie betreffen alles, was ist, uns eingeschlossen! Das fällt uns bei anderen Erscheinungen anscheinend weit weniger auf als bei dem begehrten Gut der Schönheit.
Andere Vorbehalte gegen das Schöne sind auch nicht selten. Z.B. im Hinblick auf Frauen-Schönheit; hauptsächlich, wenn es sich um männliche Meinungen handelt.
„Drei Zehntel der Schönheit einer Frau sind angeboren, sieben Zehntel auf Putz zurückzuführen“.„Nicht die Schönheit der Frau blendet die Männer, die Männer blenden sich selbst.“ „Die Frau ist für die Männer eine Beschränkung des Lebens.“
Da klingt ein Vorwurf der Täuschung an. Täuscht das Schöne auch? Verspricht es, was nicht gehalten wird? Ist es doppelzüngig?
Eine auffällige Besonderheit des Schönen ist seine starke WIRKSAMKEIT, seine Effizienz, die fast immer funktioniert.  Wenn wir mit Schönem konfrontiert werden, fasziniert uns das Schöne, hebt trübe Stimmungen, freut uns – je länger wir uns in seinem Umkreis aufhalten. 
Das wirklich Schöne wirkt als ein Gegen-Mittel gegen die belastenden Tendenzen dieser Welt: Uns zu deprimieren. In unserem unvorhersehbaren, zwischen Schlägen und Freuden rasch wechselnden Lebenslauf ist seelische Stabilität oft schwierig.                             
Das füllt die Praxen der Psychiater und Psychotherapeuten, mit deren Hilfe man Befreiung von Niedergeschlagenheiten erhofft. Rund ein Viertel der Weltbevölkerung soll im Lauf des Lebens von kürzeren oder längeren Behandlungsbedürftigen Depressionen befallen werden.  
Ein Kennzeichen von Depression ist das Drehen der Gedanken um immer gleiche negative Eindrücke und Gefühle, welche zunehmend die Empfindungen für Freude und Genuss am Leben auslöschen. Schon antike Denker waren der Meinung, dass das Schöne (-in der Kunst, - bei den Frauen, in der Geselligkeit, in der Natur) die Sperre einer Depression aufbrechen kann und  sich Erscheinungen des Schönen gegen eine solche Sperre nutzen lassen.
Das Schöne kann also ein Gegen-Mittel gegen die Schwierigkeiten des Lebens sein; es zieht  Aufmerksamkeit auf sich und lenkt die Empfindungen auf seine Betrachtung und seinen Genuss.     
Warum kann es aber auch ein Gift sein? - Weil wir nicht sicher sein können, wann das Schöne eine (falsche) Illusion unserer Sinne ist, - oder ein  gestaltendes Element unserer Welt.
ALBERT EINSTEIN, der große Theorie-Erfinder, hielt die Schönheit offenbar für ein gestaltendes Element unseres Universums. Während jahrelanger Suche nach einer schlüssigen Formel für die Beziehung von Materie zu Raum und Zeit nahm EINSTEIN zwei Freunde mit exzellenten Mathematik-Kenntnissen zu Hilfe. Gemeinsam erarbeitete hoch komplizierte Formeln befriedigten EINSTEIN gerade wegen ihrer komplizierten Länge nicht. Er drängte nach immer weiterer mathematischer Reduktion.  
Als er schließlich zu seiner Formel: E = mc2
(Energie = Masse mal Geschwindigkeit im Quadrat) fand, bestätigte die Knappheit der Formel für ihn ihre Richtigkeit, weil sie – nach seinen Worten – „schön“ sei.  
Als FALSCHE Illusion oder Wunschvorstellung unserer Sinne kann Schönheit  zu schrecklichen Ergebnissen führen. Das Verbreiten von schlimmen Illusionen hat das 20. Jh zu einem Jahrhundert des Schreckens gemacht.         
Als falsche Illusion ist Schönheit ein Gift, das verführen kann. Als ordnendes Element der Welt kann Schönheit als Gegengift wirken gegen die Belastungen, die die Welt uns zumutet.      
Wenn das Schöne keine Illusion ist, sondern ein Element, das das ganze Universum durchzieht, können wir uns an seiner positiven Wirkung freuen. Wie könnte man entscheiden, ob Illusion oder Wahrheit?
Es gibt ein Kriterium, das alles wirklich Schöne auszeichnet: Eine jeweils ihm eigene ORDNUNG. Alles gelungene Schöne ruht auf der Basis einer ihm eigenen ORDNUNG seiner Elemente, denen nichts hinzugefügt und nichts entnommen werden kann, ohne seine Schönheit zu beeinträchtigen. Verständnis für etwas Schönes erhält man, wenn man  Ordnungen  erkennen lernt: Formen bilden Brücken zu anderen Formen, Farben verbinden sich mit ähnlichen Farben zu Farbklängen, Leerräume werden mit anderen Leerräumen zu Mustern des Ganzen.
Das lässt an das Gefüge des Kunstwerks denken, den Prototyp des Schönen. Jedes Kunstwerk ruht auf der Basis von einer eigenen Ordnung der gestalterischen Elemente, die der kreative Künstler aussucht, arrangiert und verarbeitet, bis die Elemente zu einem Ganzen werden, das der Vorstellung des Künstlers von einem Kunstwerk entspricht. 
Qualität und Rang eines Kunstwerks lassen sich erst einschätzen, wenn man die Ordnung seiner Elemente erfasst hat, die hinter der Schönheit seiner Erscheinung steht.      
EINSTEIN „erkannte“ die Vollendung seiner berühmten Formel an ihrer knappen Ordnung, die ihm „schön“ erschien. Die Qualität der Schönheit hat ihn in seiner Überzeugung bestärkt, dass diese Formel richtig ist; was sich bestätigt hat.
Mit dem Kriterium einer zu Grunde liegenden Ordnung kommt man dem Verständnis des Schönen näher.
Aber eine unruhige Frage bleibt:
Kann man sich auf die Ordnung des Schönen verlassen, die erkennbar ist, oder muss man sich vor seinen unerkannten Verführungen hüten? Besteht Sicherheit oder Unsicherheit im Erkennen des Schönen? Im Kunstwerk, in der Natur, in der weiblichen Schönheit, in der Lebensgestaltung, in der Gesellschaft?

Was schön ist, entscheidet in der Regel jeder nach seinen Vorlieben.
Um Schönes einigermaßen dauerhaft zu machen, muss es von uns in Ordnung gehalten werden. Nichts bleibt schön in der Unordnung. Im Alltag erfahren wir ständig, dass Ordnung Mühe macht. Wenn wir Bücher oder Papiere häufig benutzen, legen wir sie nicht jedes Mal an ihren Platz zurück, sondern auf einen Stapel, der anwächst, bis er so unübersichtlich wird, dass dringend aufgeräumt werden muss;  oder es entsteht ein chaotischer Berg, über den man nicht mehr Herr wird. 
Alle MATERIELLEN Dinge haben die Tendenz zu chaotischer Unordnung. Das hat die Wissenschaft als ein physikalisches Gesetz erkannt. Zugleich wurde erkannt, dass alles LEBENDIGE dieser Tendenz entgegenwirkt. Das LEBENDIGE strebt ständig danach, das Chaos der MATERIE in Ordnung zu bringen! 
Täglich beobachten können wir das an unserem eigenen Körper. Der perfekte Austausch seiner lebendigen Substanzen untereinander entwickelt die Abwehr- und Reparaturkräfte, die die täglichen kleinen Schäden an der MATERIE unseres Körpers in Ordnung bringen, oft ohne dass wir es bemerken. 
Für alles, was wir als Menschen zum normalen Existieren auf dieser Welt brauchen, sind wir hinreichend ausgestattet; in vorderster Linie durch unsere fünf Sinne.
Die Sinne: SEHEN, HÖREN, RIECHEN, SCHMECKEN, TASTEN sind uns in allererster Linie NÜTZLICH. Ohne sie können wir uns hier nicht orientieren.
Überraschender Weise haben diese fünf Sinne aber auch die Eigenschaft, Anstöße zum SCHÖNEN auszulösen:  Es erfreut uns, in ein schönes Gesicht zu SEHEN, Musik unseres Geschmacks zu HÖREN, an einer Blume oder Frucht zu RIECHEN, etwas Leckeres zu SCHMECKEN, etwas Weiches zu STREICHELN! Der Doppelcharakter, Nützliches UND Schönes aufzuspüren, zeichnet alle fünf Sinne aus.
Darüber hinaus nehmen wir wahr, dass es noch weitere Sinne in uns gibt. Wir sprechen z.B. von einem ‚Schönheits-Sinn‘.  
Aber dieser Sinn, der Sinn für das SCHÖNE, hat keinen Doppelcharakter. Er ist nicht NÜTZLICH.    
Oder doch? 
Ist der SCHÖNHEITSSINN das Gegenmittel gegen die schwer erträglichen Härten, die unsere Existenz treffen können? Kann er die Welt für uns freundlicher machen, unsere seelischen Kräfte am Leben halten? Ist das seine Nützlichkeit? – Vielleicht.   
Das SCHÖNE ist ein Lichtblick im Dunkel.