Samstag, April 04, 2015

Die Moderne – Eine Galeere ?
Gedanken zu einem Gemälde des Malers GUSTAVE CAILLEBOTTE (1848- 1894)






„Caillebotte Rabotteurs 1875“ von Gustave Caillebotte - www.photos-galeries.com. Lizenziert unter Gemeinfrei über Wikimedia Commons.

Die Malerei ist stumm. Aber sie spricht mit Zeichen. Diese versteht man manchmal sofort, oft erst nach intensiver Beschäftigung mit einem Bild.

In dem Gemälde des Franzosen Gustave Caillebotte, -„Die Parkettschleifer“, fallen zwei gleichartige Formen, die ein Zeichen sein könnten, sofort ins Auge - Die hellen, lang vorgestreckten Arme der beiden Parkettschleifer, in einer Ellipsenform.

Erinnern diese auffällig ins Bild gesetzten Formen an etwas?
Es könnte einem mehreres einfallen.

Die Formen könnten an das Joch um den Hals von schweren Kaltblütern erinnern, die in München die Bierwägen zum Oktoberfest ziehen. Ein derartiges Joch nannte man auch Kummet.
Das Joch in Form eines Kummet ist die älteste Form der Anspannung von großen Zugtieren, welches die Kraft der starken Tiere am vollständigsten ausnutzt.

Man könnte im Bild bei den Männern mit den lang vorgestreckten Armen auch an etwas anderes denken: An Ruderer einer Galeere, die, weit vorgebeugt, beim Zurückziehen ihrer Körper die schweren Ruder der Schiffe ziehen.
Beide Assoziationen gehen in die gleiche Richtung: das Ausnutzen der Energien von Dienenden. 

Es könnte noch ein weiterer Einfall entstehen: Handelt es sich bei der Bewegung der beiden Männer um eine Unterwerfungsgeste vor einem mächtigen Herren? 

Da die auffällige Bewegungs-Form der gebeugten Arme im Bild eine Reihe von Assoziationen im Betrachter auslöst, scheint es sich um ein ZEICHEN zu handeln, das Bedeutung hat.


Das Bemerken eines auffälligen Zeichens im Bild ist 
oft ein erster Schritt, eine Malerei zum Sprechen zu bringen. 

Ein ZEICHEN scheint in dem Bild von CAILLEBOTTE vorzuliegen. Ob es Bedeutung hat und welche Bedeutung es haben könnte – damit wird sich das Folgende beschäftigen.


Zum Erkennen der Bedeutung des Zeichens soll zunächst die historische und soziale Situation der Zeit betrachtet werden, in der CAILLEBOTTE sein Bild „Die Parkettschleifer“ gemalt hat. 

GUSTAVE CAILLEBOTTE schuf sein Gemälde in einer dramatischen Zeit für Paris. Er malte es im Jahr 1875; fünf Jahre, nachdem der Baron EUGENE HAUSSMANN den Abriss des mittelalterlichen, unsauberen und düsteren Paris abgeschlossen hatte. HAUSSMANN hatte, nach Schleifung der Stadtmauern, mit rd. 100.000 neuen Gebäuden an breiten hellen Boulevards eine moderne Metropole geschaffen, die in Europa zu dieser Zeit nicht ihresgleichen fand.
Dafür wurden 22.000 alte Häuser abgerissen, teilweise nach Zwangs-Enteignung. 
Das verelendete Proletariat von Paris, das durch Zuzug vom Lande ständig wuchs, hatte HAUSSMANN aus seinen ruinösen Mietskasernen in der Mitte der Stadt an die Peripherie der Stadt in neue Mietskasernen umgesiedelt.

Das gewaltige Umbauprogramm war mit unglaublicher Härte in nur 17 Jahren vollendet worden, in persönlichem Auftrag des Kaisers Napoleon III. an EUGENE HAUSSMANN. 
Das Umbauprogramm war, neben der Verschönerung, ein gewaltiges Arbeitsbeschaffungsprogramm für das Proletariat von Paris und wirkte der Kritik entgegen, die dem rabiaten stadtplanerischen Wirken des Baron HAUSSMANN entgegenschlug. 


Der Kaiser selbst verfolgte das Projekt aufmerksam; und er tat das nicht nur aus Verschönerungsgründen

Frisch in Erinnerung waren bei Bevölkerung und Regierenden die Barrikaden-Aufstände in Paris von 1830, 1832 und 1848, die immer wieder aufflammten.
Angezettelt wurden die Aufstände von der armen arbeitenden Bevölkerungsschicht als Wehr gegen die alte Feudalherrschaft der Bourbonen, die sich nach der großen Revolution von 1789 die Regierungsmacht zurückerobert hatten.

1830 wurde der letzte Bourbone von der Bevölkerung vom Thron vertrieben.
1848 musste der nachfolgende „Bürgerkönig“ Louis Philip vor dem Druck der aufständischen Pariser nach England fliehen.
Die republikanisch gesinnten Kräfte hatten einen Sieg errungen, aber der Blutzoll der Barrikaden-Kämpfe war hoch gewesen.

Das Machtmittel der Aufständischen war der Barrikadenbau in den engen Straßenschluchten des mittelalterlichen Paris, in die weder Polizei noch Artillerie eindringen konnten.

Napoleon III., selbst durch Putschen an die kaiserliche Macht gekommen, war entschlossen, den Furor der Aufstände radikal zu beenden
Die breiten hellen Boulevards der Stadtplanung, sternförmig von freien Plätzen ausstrahlend, waren als rasche Zubringer für die Ordnungsmacht gedacht. Die neue lockere Bebauung verhinderte konspirative Verstecke und erlaubte der Artillerie freie Schussbahnen bei Zusammenrottungen. 

Schönheit mit Zweck. Die Bevölkerung erkannte die Absicht genau und nannte das Unternehmen:
„Strategische Verschönerung“ („L’embellissement strategique“) 


In der alten Stadt Paris hatten Arm und Reich häufig in den gleichen Häusern gelebt; die Armen in den

Souterrains und in den hohen Etagen und Dach-Geschossen, die Reichen in der „Belle Etage“; in den mittleren Etagen die gut situierten Familien. Man begegnete sich.

Mit der Modernisierung der Stadt wurde die Pariser Gesellschaft im 19.s. lokal getrennt.

Im Zentrum der Stadt lebten wohlhabende, tüchtige, ihr Leben gestaltende und genießende Städter.
An die Ränder der Stadt verdrängt lebten die armen Schichten, die darauf angewiesen waren, eine Arbeit in der Stadt oder in den großen Industrie-Unternehmen zu finden, welche sich an den Stadträndern ausbreiteten.

Die Trennung der Bevölkerung in zwei gesellschaftliche Milieus – ein wohlhabendes und ein ärmliches – ist in dem Gemälde von CAILLEBOTTE ablesbar: Auf dezente Weise vertritt im Bild die noble Wandzone des dargestellten Zimmers den wohlhabenden Teil der Gesellschaft, die dunkle, fleckige, schadhafte Bodenzone mit den schwitzenden Parkettschleifern den armen Teil. 

Die Wohlhabenden von Paris rissen sich darum, in den neuen und in den modernisierten Stadtvierteln Häuser zu bauen oder zu kaufen.

Einer von den potenten Käufern war der Vater von GUSTAVE CAILLEBOTTE. Der Vater des Malers war ein tüchtiger Geschäftsmann, der mit frischen Geschäftsideen (z.B. einer maschinellen Großwäscherei) vermögend geworden war.
Das 19.Jh. war in Frankreich eine Zeit von vielfach spekulativ an der Börse erworbenen Vermögen. „Kapital“ zu erwerben, erreichte eine ungeheuerliche Anziehungskraft. 
Das Werk von BALZAC zeugt davon. 
Ein früher Kapitalismus entwickelte sich, mit einer Lebenseinstellung, die hinter materiellen Werten alle anderen abzuwerten begann. 

Der Maler CAILLEBOTTE WOLLTE 1875 in das neu gekaufte Haus des Vaters einziehen.

Kurz davor hatte sich ein starker Wasserschaden im Parkett herausgestellt.
Arbeiter wurden bestellt, das Parkett zu sanieren.

Diese Reparaturarbeit im Haus des Vaters beobachtete der Maler CAILLEBOTTE mit Interesse und stellte sie als Thema im Gemälde „Die Parkettschleifer“ dar.

Das entstandene Meisterwerk hängt heute als ein Highlight im MUSEE D’ORSAY in Paris. 

Was ist auf dem Gemälde „Die Parkettschleifer“ dargestellt?

Offensichtlich sind hier drei Arbeiter damit beschäftigt, in einem noblen Haus einen heruntergekommenen Boden wieder in Ordnung zu bringen. Ein paar Holzflocken liegen auf einem bereits gesäuberten Parkettteil.

Von draußen scheint durch ein hübsches kleines Balkongitter ein bisschen Sonnenlicht herein. Die Wände des Raumes sind elegant verkleidet durch eine silbriggraue Holztäfelung mit klassizistischen Ornamenten, die fein golden umrandet sind.
Auf dem schmutzigen Boden des Raumes knien im Zentrum des Bildes zwei Arbeiter mit nacktem Oberkörper. Festgehalten ist der genaue Augenblick, in dem die weit vorgebeugten Männer die Hobel ansetzen, die sie gleich darauf zurückziehen werden. Die Bewegung scheint synchron, im Takt zu laufen. Auf den nackten Oberkörpern glänzen Schweißtropfen.

Der Kontrast ist offensichtlich:
Die Zone der Wände, elegant, geschmackvoll, zeigt den Reichtum des Hausbesitzers.
Die Zone des Bodens, schmutzig, heruntergekommen, mühselig zu bearbeiten, gibt einen Hinweis auf die Dürftigkeit der Arbeitenden. Die Männer, die hier arbeiten, sind wohl keine professionellen Handwerker mit starken Muskeln und wetterbrauner Haut, sondern eher schmale, wenn auch zähe Gelegenheitsarbeiter
mit feinen Händen und fast dünnen Armen.
Die auffallend hell, blass gehaltene Fleischfarbe an Armen und Schultern, die Schweißtropfen auf den nackten Rücken, signalisieren etwas von ihrem Stand, vielleicht aus dem Proletariat der Vorstädte.

Es fällt auf, dass die Männer ihre Arbeit in ausgeglichener Stimmung, wohl mit Gleichmut verrichten. In den knapp gezeigten Gesichtern sind Andeutungen eines sich Zu-Lächelns zu erkennen. Eine dicke Weinflasche neben ihnen steht griffbereit.

Das Kolorit des Gemäldes zielt auf eine harmonische, dunkel gedämpfte Einfarbigkeit, ohne emotionale Höhepunkte in der Farbwirkung, außer der auffallend hellen Fleischfarbe der männlichen Arme und Rücken. 

Der Standpunkt des Malers liegt leicht oberhalb der Szene und blickt auf diese herab.

Macht die Gestaltung des Bildes eine Aussage? 

Kontraste zwischen etwas Heller und etwas Dunkler, zwischen reich und ärmlich – 
der entscheidende Blickfang des Bildes ist durch Form und Farbe das Bewegungs-Motiv der hellen Arme von den beiden Arbeitern.
Hier setzt der Maler ein Zeichen.
Im Betrachter löst das Zeichen durch seine bestimmte Bewegungs-Form den Eindruck einer GALEEREN-Arbeit aus.

Ob CAILLEBOTTE die Symbolhaftigkeit seines Zeichens bewusst eingesetzt hat. oder ob es sich halbbewusst beim Schaffensvorgang entwickelt hat, ist nicht zu entscheiden.

Entscheidend ist, dass der Betrachter des Bildes um die Assoziation einer Galeeren-Situation nicht herumkommt.
Das Gemälde deutet damit einen Zwangs-Charakter der Arbeit im 19. Jahrhundert an,
egal ob der Maler sich dessen voll bewusst war oder nicht
In die sensiblen Sinne der Künstler wirkt die Zeit mit ihren Tendenzen und Stimmungen ein und spricht sich in Formen der künstlerischen Darstellung wieder aus.

Man kann solche Formen, die Zeichen werden, lesen.

Wenn man das Bild von CAILLEBOTTE unter dem angedeuteten Symbol einer Galeeren-Arbeit liest, 
ist man geneigt, die Botschaft des Gemäldes in einer sozialen Anklage gegen eine menschenunwürdige Behandlung der arbeitenden Klasse zu sehen.

Gegen diese Deutung zeigen sich im Bild Widersprüche.
Man sieht zwar an Körperhaltung und Schweiß, dass die Hobel-Arbeit der Männer schwer ist. Man sieht im Bild aber auch die Flasche Wein und die gelassenen Gesichter, mit denen die Arbeit verrichtet wird.

Das passt nicht zu unseren Vorstellungen von Zwangsarbeit auf Galeeren in früheren Jahrhunderten.

Die Interpretation des Bildes als soziale Anklage von CAILLEBOTTE scheint nicht zu stimmen. Das Bewegungs-Zeichen, das CAILLEBOTTE so auffällig in das Zentrum des Bildes setzt. scheint den Betrachter über das wahre Interesse des Malers zu täuschen.

Wo liegt das wahre Interesse des Malers?

Eine Blickrichtung auf den STIL des Gemäldes gibt genauere Auskunft.

CAILLEBOTTE gehört stilistisch, zumindest mit seinem Gemälde „Die Parkettschleifer“, nicht mehr zu seinen Zeitgenossen, den für ihren Farbenrausch gefeierten Impressionisten.
Die Impressionisten stellten der Wirklichkeit von dunklen Industriezonen die Paradiesvorstellungen von Licht durchfluteten Naturidyllen entgegen.



Das Gegenteil im Gemälde von CAILLEBOTTE:
Keine Natur, wenig Licht, feste plastische Formen.
Arbeits-Wirklichkeit gegen Paradies-Vorstellungen.

Um 1880 entwickelte sich in Frankreich in den Künsten eine Tendenz zum Stil eines NATURALISMUS, der sich die nüchterne Genauigkeit der Wissenschaften zum Vorbild nahm.

Ziel dieses Naturalismus war, dem Gewöhnlichen, Unterprivilegierten, dem „Hässlichen“ einen Platz in der Kunst zu verschaffen, den das Hässliche in der Wirklichkeit der Welt immer hat, was die Idealität der Kunst gerne verschönt.

Um das Ziel der Wirklichkeits-Nähe in einem Gemälde zu erreichen, sollten, nach den Vorstellungen der Naturalisten, die anatomische Richtigkeit und Körperlichkeit der Dinge „beinahe materiell spürbar“ gemacht werden, die Stofflichkeit und Materialien genau kenntlich sein, um damit das anvisierte Milieu präzise zu charakterisieren.
Zeit und Raum, die „Augenblicklichkeit“ eines Bildes, sollten erfahrbar sein.
Wenig privilegierte Schichten sollten die bevorzugten Sujets für ein Gemälde sein, weil diese bisher als Themen von der großen – akademischen –Kunst ausgeschlossen waren. 

Um solche Gestaltungsqualitäten bemüht sich CAILLEBOTTE in seinem Bild „Die Parkettschleifer“, zur Eroberung eines eigenen, der Wirklichkeit nahe kommenden Stils. . 

Das wahre Interesse dieses Malers gilt in dem Bild nicht den sozialen oder psychischen Problemen seiner Zeit, sondern den malerischen Darstellungsmitteln für sein Gemälde.

Das erklärt den auffällig sachbezogenen und emotionslosen Darstellungsstil des Bildes, welcher einem Arbeitsprotokoll ähnlicher ist als einer sozialen Anklage.
CAILLEBOTTE malt sein Bild, weil er Maler ist und seine malerischen Mittel erproben will. 

Diese Interpretation klingt einfach.
Sie wirft aber eine eher rätselhafte Frage auf.

Warum erscheint in dem Gemälde, das nach Wirklichkeits-Nähe strebt, ein ZEICHEN, das dem Betrachter die Assoziation einer Galeeren-Arbeit aufdrängt?

Eine Antwort ist schwierig. 
Sie führt zu einer Frage am Anfang des Textes zurück: 
- War sich CAILLEBOTTE der Symbolhaftigkeit der Formen von den gebeugten Armen bewusst, oder haben sich diese Formen halbbewusst erst beim Schaffensvorgang entwickelt? 

Die Interpretation des Bildes kommt weiter, wenn sie auf den zweiten Teil der Frage setzt: 
Das für den Betrachter auffällige Zeichen hat sich während des Schaffensvorgangs in das Gemälde eingeschlichen.

In die sensiblen Sinne der Künstler wirkt die Zeit mit ihren Tendenzen und Stimmungen ein und spricht sich in Formen künstlerischer Darstellung wieder aus. 

Der Druck der Zeit im 19.Jahrhundert könnte in das Gemälde von CAILLEBOTTE mit diesem symbolartigen Zeichen in die latente, halbbewusste Ebene der Sammlung von täglichen Eindrücken, als Bild eingedrungen sein.

Auf dieser emotionalen Ebene sammeln und verbinden sich alle Eindrücke, die unser Leben streifen – Empfindungen, Assoziationen, Aha-Erlebnisse, Wohlgefühle, Abscheu etc.-, bis ein rascher Scheinwerfer unserer Aufmerksamkeit sie vielleicht in unser Bewusstsein hebt.
Unter diesem liegt unser latentes kreatives Reservoir.


Der Maler, dem ein interessantes Sujet aufgefallen ist, - wie die Reparaturarbeit im Haus Caillebotte -, durchstreift, intuitiv, seine unerschöpfliche emotionale Ebene nach Elementen, die ihn reizen, für sein Sujet einen bildlichen Ausdruck anzubieten. 
Dann steigt die nächste Stufe der Gestaltung auf in eine voll bewusste, methodische Ebene, auf der der Künstler das im entspannten, unbewussten Zustand Gefundene auf Stimmigkeit für sein Werk kontrolliert. 

Beim entspannten Durchstreifen seines emotionalen Vorrats ist der Maler Caillebotte möglicherweise von zwei Bildern gleich stark affektiert worden:
von seinem eigenen gefundenen Bildzeichen für eine Wirklichkeits-nahe Reparatur-Arbeit, wie auch von dem eingeschlichenen Symbol einer Galeerenarbeit

Kein Künstler widersteht dem Reiz der treffenden gestalterischen Umsetzung eines gedanklichen Einfalls.
Auch Caillebotte nicht. Beide Bildzeichen dringen in sein Gemälde ein.
Beim Umstieg in seine bewusste methodische Kontrollstufe bemerkt er das für sein Thema einer Wirklichkeitsnahen Malerei unerwünschte SYMBOL einer ZEIT-Tendenz, aber vom Bildreiz getroffen, wird es von ihm, versteckt im Symbolcharakter, geduldet. 
Der Betrachter liest beide Bildzeichen inVerbindung:
Die Wirklichkeit der Arbeit war im 19.Jahrh. Galeeren-Arbeit.

Künstler und Zeit-Tendenz konnten sich Bild-Ausdruck verschaffen. 




Die Zeit-Stimmung der zweiten Jahrhunderthälfte
war bedrängt von den Ängsten vor der verschleißenden Arbeit an den Maschinen der neuen Industrieunternehmen, und von den Ängsten vor Arbeitslosigkeit, wenn jemand dieser Arbeit nicht gewachsen war. 

Das Symbol einer Galeeren-Arbeit eignet sich gut zum Aussprechen dieser Ängste. 
Das zentrale Thema des Malers Caillebotte waren sie nicht.
GUSTAVE CAILLEBOTTE war ein „fils rich“, ein begabter junger Mann, der einen reichen Vater hatte. Man kann annehmen, dass er lebensbedrohende Not, die zum Jahrhundert-Problem der proletarischen Massen wurde, nie erlebt hat.

Sein Gemälde stellt keine Szene des Industriezeitalters vor, sondern eine häusliche Arbeit unter einem privaten Dach, die unter keinem Leidensdruck zu stehen scheint.

Trotzdem hat CAILLEBOTTE mit den „Parkettschleifern“ – Angehörige der unterprivilegierten Klassen - ein Meisterwerk geschaffen, das nicht für die soziale Frage angelegt war, in das sich aber das Zeit-Problem hinein gedrängt hat.

Unter seinen Händen entstand mitten in einem Arbeitsprotokoll ein Symbol, das spätere Betrachter lesen konnten. …wie er selbst es vielleicht nie so gelesen hat. 

Das Bild von Caillebotte zeigt ein Beispiel für die Eigenwelt eines Kunstwerks. Das Kunstwerk wird zwar gemacht, knüpft aber in sich selbst Beziehungen, die sprechen, und die der Maler nicht mehr ändern kann, ohne das Werk zu verderben. 




Die französische LITERATUR als Anwalt der sozialen Frage, in romantisch sentimentalem Stil. 

In starkem Gegensatz zu der Distanz, die die MALEREI von Caillebotte zu den Zeitproblemen hält, steht die leidenschaftliche Anteilnahme der französischen LITERATUR an den Schrecken des Industriezeitalters. 
In der französischen Literatur wird das Leiden des Jahrhunderts an der Arbeit bedrängend vorgetragen.

Der französische Dichter CHARLES BAUDELAIRE, der zugleich ein sensibler Kunst- und Kulturbeobachter war, schreibt in seinen Eindrücken
von Paris um 1845: „ …in den arbeitenden Massen ist die Vorstellung des Selbstmords heimisch geworden.“

Ein Pariser Journalist und sozialistisch gestimmter Republikaner, Charles Benoist, schreibt 1848:
„Man reißt sich um die Abzüge einer Lithographie, die einen englischen Arbeiter darstellt, wie er sich in der Verzweiflung, sein Brot nicht mehr verdienen zu können, das Leben nimmt. Ein Arbeiter geht sogar
in die Wohnung von Eugene Sue und hängt sich dort 
auf, in der Hand einen Zettel:,,.Ich dachte der Tod möchte mir leichter werden, wenn ich unter dem Dach eines Mannes sterbe, der für uns eintritt und der uns liebt.“

EUGENE SUE (1803-1857), ein Pariser Journalist und Schriftsteller, schrieb 1842 den ersten Fortsetzungs-Roman, der in Zeitungen erschien: “Les mysteres de Paris“. Sein Thema waren die Laster und Leiden der Armen und der Kriminellen in dem alten Paris mit seinem „schauerlichen Gewirr von finsteren engen Gässchen“. 
Die reißerischen, aber anschaulichen Milieu-Schilderungen von EUGENE SUE wurden ein Publikumsmagnet.
„Die Geheimnisse von Paris“ sind ein sozialistisch gefärbter Sittenroman über das alte Paris, das zehn Jahre später unter der Stadtverschönerung des Baron HAUSSMANN auf immer verschwand.
EUGENE SUE schrieb mit seinem schauerlichen, sentimentalen Reißer keine große Literatur, aber er hatte für die leidenden Armen ein echtes soziales Mitgefühl.
Die Fortsetzungsteile seines Romans wurden von den morgendlichen Zeitungslesern in Paris täglich mit Spannung erwartet.
Sie schafften bei einem breiten Publikum Aufmerksamkeit für die Zusammenhänge von Elend, Arbeit und Verbrechen. 
Die soziale Frage von Arbeit, Arbeitslosigkeit und Verelendung erhielt ihre Öffentlichkeit durch die Zeitungs-Literatur…

Das Gefühl eines Umbruchs des Lebens durch die Industrialisierung, mit ihrem Zwang zu veränderten Arbeitsweisen, durchdrang die ganze Endzeit des 19.Jahrhunderts. 

Eine Veränderung der Zwänge?

Es stellt sich die Frage, ob nicht alle Zeiten auf die Menschen den gleichen Zwangscharakter von harter Arbeit ausgeübt haben.

Hat sich im 19. Jahrhundert die Art und Stärke des Zwanges grundsätzlich verändert? 

Diese Frage muss mit Ja beantwortet werden.

Mit der großen Industrialisierungswelle, die im 19.Jahrhundert nacheinander die wichtigen Volkswirtschaften Europas erfasste, fand eine Umwälzung aller gesellschaftlichen Verhältnisse statt, die die INDUSTRIELLE REVOLUTION genannt wird.

Jahrtausende alte agrarische Wirtschaftsformen wurden abgelöst von industriellen Wirtschaftsformen. Dabei wurden die Menschen-Kräfte ersetzt durch Maschinen-Kräfte.

Bis zum 19.Jahrhundert hatten Menschen seit drei Jahrtausenden in Landwirtschafts-Kulturen gelebt.
Die Menschen waren in klimatisch begünstigten Gegenden von nomadisierenden Herden-Treibern mühsam zu sesshaften Feldbauern geworden.

Sie hatten alles, was sie brauchten, der Erde und der Natur abgewinnen müssen. Die körperliche Arbeit mit der Erde war schwer und risikoreich durch Naturereignisse aller Art. 
Um gegen die Risiken anzukommen, hatten sie Wetter-Götter personifiziert und um Hilfe angerufen, hatten sich Kult-Formen ausgedacht mit Tänzen, Gesängen, Geschenken, um die Götter aufmerksam und gnädig zu stimmen. Aus diesen Kult-Formen hatte sich Kultur entwickelt und die Phantasie der Menschen zu immer feineren Fertigkeiten angeregt.

Damit hatten es landwirtschaftlich wirtschaftende Völker in günstigen Gebieten zu Reichtum gebracht, auf den sie stolz waren. Sie, die Menschen, waren die Herren der Natur, hatten die Natur durch Werkzeuge und Handwerke gebändigt und fruchtbar und schön gemacht. Sie hatten Sinn für Schönheit und Maß entdeckt und Kulturen entwickelt, die mit schwerster körperlicher Arbeit herrliche Schöpfungen hervorbrachten, wie Pyramiden und Tempel.
Der Druck der Schwerstarbeit wurde gelohnt durch die Befriedigung am Geleisteten.

Diese agrarischen Gesellschaften waren sich ihrer Fähigkeiten mit Stolz bewusst.

In diese zwischen Mühsal und Befriedigung austarierte Lebensweise brach die Maschine ein. 

Die Maschinenarbeit des 19. Jahrhunderts beseitigte nicht die Mühsal der menschlichen Arbeit, sondern beseitigte die Befriedigung an ihr. .

Mit der Maschine entstand dem Menschen eine Konkurrenz, der er nicht gewachsen war. 
Die Industrie-Maschinen arbeiteten schneller, ausdauernder, regelmäßiger als Menschen.
Maschinen brauchten weder Pausen, Erholung, noch Schlaf. Sie mussten nur bedient werden.
Der Mensch wurde dazu da, sie zu bedienen.

Der Herr der Dinge wurde die Maschine. Der Mensch verlor die Befriedigung an der Arbeit, weil sie nicht mehr seine Arbeit war.

Das brachte Unsicherheit, Zweifel, Bewegung in das Selbstbewusstsein des modernen Menschen.

Es brachte auch einen Verlust an Schönheit der Traditionen, denen das 19. Jahrhundert nachtrauerte.

Vor Beginn des Maschinenzeitalters war die Welt leise gewesen. Die lautesten Geräusche in der Agrarwirtschaft waren die des Wetters und das Läuten der Kirchenglocken, das die Tageszeiten strukturierte. 
Man stand mit Beginn des Tageslichts auf, unterbrach die Arbeit mit dem Mittagsläuten um 12 Uhr zum Vesper und beendete den Arbeitstag mit dem Abendläuten um 6 Uhr.
Das Wohlgefühl des Feierabends, welcher ein unveränderlicher Bestandteil der Tradition war, spiegelt sich in vielen Volksliedern. (“ Oh wie wohl ist mir am Abend…“)
Der Feierabend bot ein Stück Freiheit zur persönlichen Verwendung.

FREIHEIT für den Arbeitenden bestand auch gegenüber der Einteilung seiner Tagesarbeit. Einer, der Leben oder Lohn aus dem Gelingen der Feld- oder Handwerks-Arbeit ziehen musste, wusste , was in der Tagesarbeit Vorrang oder Nachrang hatte. Er war der Herr seiner Arbeitseinteilung, mit Risiko von Gelingen oder Fehlschlagen.

Dieser Freiheit der Arbeitseinteilung auch für den kleinen Mann setzte die Maschine ein Ende.

Der „Kapitalist“, der sein Geld in den Erwerb einer Maschine gesteckt hatte, wollte den größten möglichen Nutzen daraus ziehen.
Seine Maschinen nahmen weder auf Feierabend, noch Krankheit, noch auf die Feste der Traditionen Rücksicht – sie produzierten ohne Unterlass. Der an ihr arbeitende Mensch musste sie ohne Unterlass bedienen.

Je mehr sich die Agrarwirtschaft in eine Industriewirtschaft – die bessere Löhne versprach – umwandelte, desto mehr Menschen verloren unter dem Diktat der Maschinen und ihrer Besitzer das Stück persönliche Freiheit, das die Traditionen des agrarischen Lebens gewährt hatten.
Die Menschen wurden an den Maschinen mit ihren Körpern und ihrer Selbstwertachtung verschlissen. 

Damit zeigt sich das Symbol, das sich in das Gemälde von CAILLEBOTTE eingeschlichen hatte, als zutreffend. 
In dem Jahrhundert, in dem Caillebotte lebte, wurde die Industrie-Arbeit zu einer Galeeren-Arbeit unter dem Diktat der Maschinen und ihrer Besitzer.

Das 19.Jahrhundert hatte die arbeitende Masse seiner Menschen – unter Vorspiegelung eines Vorteils an Beschäftigung und Löhnen – in ein Netz eingefangen, dem kaum zu entkommen war.
Diese Entwicklung perfektionierte sich im 20.Jahrhundert, bis in langem Kampf zwischen den Positionen der Arbeitgebenden und der Arbeitnehmenden Übereinkünfte gesucht und gefunden wurden für eine Wahrung der Rechte für beide Seiten. Diese konnten in feste gesetzliche Regelungen umgesetzt werden. Ein glücklicher Moment der Arbeitsgeschichte.

Im fortschreitenden 20.Jahrhundert trat - unter Druck von unten -, ein Fortschritt auch durch partielle Lösungen für soziale Missstände ein. 

Es schien, als ließe sich die Industrielle Revolution in eine die menschlichen Lebensverhältnisse aufbessernde Evolution umformen.


Da trat am Ende des 20.Jahrh., von der breiten Menge unerwartet, die Revolution ein, die in ihrer Wirkung alle vorangegangenen hinter sich gelassen hat: 
Die Digitale Revolution. 
Mit der raschen Entwicklung des PC für jedermann und seiner genialen Verbindung zu einem WELTWEITEN DATENNETZ wurde die Position der Menschheit von den Füßen auf den Kopf gestellt. 

Seit ihrer drei Millionen Jahre langen Entstehung waren die Menschen Wanderer. Wandernd haben sie sich mit der runden Erde bekannt gemacht. Sesshaftigkeit waren dabei Ausnahmen. 
Wandern, Wechsel der Orte, und damit Sammeln von Erfahrung, waren das einzige Lehrmittel für die körperlichen und geistigen Entwicklungen, die uns bis heute voran gebracht haben

Da ersetzte das Weltweite Datennetz die Füße des Menschen durch den Kopf.

Ohne sich vom Fleck zu bewegen, hat der Betrachter seines Bildschirms Kontakte zu allen Orten der Erde und das Wissen der ganzen Welt vor seinen Augen zur Verfügung.
Ein enormer Fortschrittsschub folgt. Vor allem die Wissenschaften aller Gebiete kommen zu zuvor nie erreichten Einsichten, die dem Menschen nützen.

Der Enthusiasmus aller ist, zu Recht, grenzenlos. Er ergreift, noch euphorischer, das ganze private Leben. Der Mensch macht sich öffentlich.

Die Berufsaufgaben halten im Privatleben Einzug; Fremde in Freundeskreise; Zeitverschwendung in Freizeit; unterm Strich fühlen sich Viele gestresster als je zuvor, ohne abschalten zu können.

Fachwissenschaftler untersuchen gegenwärtig die Wirkungsweise des Phänomens auf unser Gehirn:
„Jetzt sind wir an dem Punkt, wo der Vorteil der digitalen Revolution verschwunden ist“
Die Wissenschaftler betonen, dass Arbeiten am Bildschirm, mailen, surfen, immer die gleichen Hirnregionen belasten. 
Früher haben die Menschen nach Feierabend etwas ganz anderes gemacht, und sich dabei erholt.“
Heute wird auf dem Bahnweg und auf dem Sofa weitergesurft – eine Überforderung unseres Gehirns.

Kann unser Gehirn den Abstand gewinnen, in welchem es unsere eigenständigen kreativen Einfälle und Gedanken entwickelt, die als Kraftfutter Eingabe statt Ausgabe für unsere seelische Gesundheit sind?


Im 21.Jahrhundert scheinen wir wieder in Gefahr, von einem Netz, mit trügerischen Versprechungen,
eingefangen zu werden, dem weltweiten Daten- Netz.
Vielleicht haben wir die Gefahren früher erkannt und können, nicht erst nach einem halben Jahrhundert von Beschädigungen, zu einer Selbstsicherheit finden, die dem Menschen, - in einer eng verwalteten modernen Welt, - ein Stück persönliche Freiheit durch
Selber-Denken erhält.