Mittwoch, November 27, 2019

SCHÖNHEIT - EIN GEGENGIFT?


300 Jahre v. Chr. schrieb ein griechischer Komödiendichter: „Das Beste im Leben ist, Verständnis für alles Schöne zu haben.“

Ein anderer Grieche dieser Zeit, PLOTIN, rückt die Schönheit in einen Vergleich mit der Sonne: „Nie hätte das Auge jemals die Sonne gesehen, wenn es nicht selber sonnenhaft wäre; so kann auch die Seele das Schöne nicht sehen, wenn sie nicht selbst schön ist.“ Der überragende Philosoph PLATON meinte: „Wenn es etwas gibt, wofür es sich lohnt zu leben, so ist es die Betrachtung des Schönen.“ 2000 Jahre n. Chr. schrieb ein deutscher Dichter über die Schönheit:

                   „Ewig jung ist nur die Sonne, sie allein ist ewig schön.“
                   (Conrad Ferd. Meyer)

Das Schöne hatte wohl zu allen Zeiten einen außerordentlichen Stellenwert. Sein Reiz ist hoch. Aber ähnlich hoch ist die Unsicherheit über seine Art, seine Definition. Was ist denn das Schöne?  Was ist schön?
In unserer Moderne schrieb der irische Dichter JAMES JOICE: „Das Ziel des Künstlers ist die Schaffung des Schönen. Was das Schöne ist, ist eine andere Frage.“    
Es ist eine offene Frage geblieben.
Gibt es Geschaffenes, das alle Menschen, oder fast alle, schön finden? Findet jeder Mensch etwas anderes schön?  Wovon hängt das ab? Von Bildung, Übung, Veranlagung, Stimmung, Zeitgeist, - oder von was? Liegt die Unsicherheit am Schönen selbst?  Ist das Schöne etwas Unfassbares? Ist es gar- keine selbständige Größe, sondern ein wechselnder Reiz? Von was? Das sind recht schwierige Fragen.
Lichtwer Magnus Gottfried, ein deutscher Dichter hat im 18. Jhd. einmal eine recht einfache Antwort darauf gegeben, was schön ist:

                   Schwarz und Weiß

                   Ein Mohr und Weißer zankten sich,
                   Der Weiße sprach zu dem Bengalen:                   
                   "Wär ich wie du, ich ließe mich                   
                   Zeit meines Lebens niemals malen.

                   Besieh dein Pechgesichte nur,
                   Und sage mir, du schwarzes Wesen,
                   Ob dich die spielende Natur
                   Nicht uns zum Scheusal auserlesen?"

                   "Gut", sprach der Mohr, "hat denn ihr Fleiß
                   Sich deiner besser angenommen?
                   Unausgebratner Naseweis,
                   Du bist noch ziemlich unvollkommen.

                   Die Welt, in der wir Menschen sind,
                   Gleicht einem ungeheuren Baume,
                   Darauf bist du, mein liebes Kind,
                   Die noch nicht reif gewordne Pflaume."

                   Sie zankten sich noch lange Zeit,
                   Und weil sich keiner geben wollte,
                   Beschlossen sie, daß ihren Streit
                   Ein kluger Richter schlichten sollte.

                   Als nun der Weiße recht behielt,
                   Da sprach das schwarze Kind der Mohren:
                   "Du siegst, ich habe hier verspielt,
                   In Tunis hättest du verloren."

                   So manches Land, so mancher Wahn,
                   Es kommt bei allen Nationen
                   Der Vorzug auf den Ort mit an,
                   Schön ist, was da gilt, wo wir wohnen

„Schön ist, was da gilt, wo wir wohnen …“ Denken wir heute noch so? Sicher nicht. Wir leben im Zeitalter der Globalisierung und haben uns längst geöffnet für die Schönheiten aus anderen, weit entfernten Kulturkreisen. Chinesische Tusch-Landschaften können uns ebenso entzücken wie Europäische Landschaftsmalereien der Impressionisten. Oft steigert das Fremde sogar den Reiz.  
Neben unserer Verehrung für die Schönheit gibt es auch Vorbehalte gegenüber der Schönheit. Die können bis zu Ärger oder Ablehnung reichen.
Als besonderer Fehler des Schönen wird wohl am häufigsten bemerkt und beanstandet: Die Flüchtigkeit, die rasche Vergänglichkeit der Schönheit.

                   „Schönheit – ist nur eine Leibrente, wenn die Schönheit stirbt, so hört die Zahlung auf, und sie stirbt immer jung.“                   (August  v. KOTZEBUE)

                   „Schönheit ist vergänglich, und wie mit den Jahren sie zunimmt, nimmt sie auch ab.“                    (OVID)

                   „Ein jeder Tag bricht dir was ab von deiner Schönheit bis ins Grab.“                   (GRIMMELSHAUSEN)

                   „Siehe! Da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle, dass das Schöne vergeht, dass das Vollkommene stirbt.“
                   (FRIEDRICH  SCHILLER)

Diese Anklagen sind eigentlich merkwürdig; denn Wechsel und Wandel sind das Charakteristikum unserer Welt; sie betreffen alles, was ist, uns eingeschlossen! Das fällt uns bei anderen Erscheinungen anscheinend weit weniger auf als bei dem begehrten Gut der Schönheit.
Andere Vorbehalte gegen das Schöne sind auch nicht selten. Z.B. im Hinblick auf Frauen-Schönheit; hauptsächlich, wenn es sich um männliche Meinungen handelt.
„Drei Zehntel der Schönheit einer Frau sind angeboren, sieben Zehntel auf Putz zurückzuführen“.„Nicht die Schönheit der Frau blendet die Männer, die Männer blenden sich selbst.“ „Die Frau ist für die Männer eine Beschränkung des Lebens.“
Da klingt ein Vorwurf der Täuschung an. Täuscht das Schöne auch? Verspricht es, was nicht gehalten wird? Ist es doppelzüngig?
Eine auffällige Besonderheit des Schönen ist seine starke WIRKSAMKEIT, seine Effizienz, die fast immer funktioniert.  Wenn wir mit Schönem konfrontiert werden, fasziniert uns das Schöne, hebt trübe Stimmungen, freut uns – je länger wir uns in seinem Umkreis aufhalten. 
Das wirklich Schöne wirkt als ein Gegen-Mittel gegen die belastenden Tendenzen dieser Welt: Uns zu deprimieren. In unserem unvorhersehbaren, zwischen Schlägen und Freuden rasch wechselnden Lebenslauf ist seelische Stabilität oft schwierig.                             
Das füllt die Praxen der Psychiater und Psychotherapeuten, mit deren Hilfe man Befreiung von Niedergeschlagenheiten erhofft. Rund ein Viertel der Weltbevölkerung soll im Lauf des Lebens von kürzeren oder längeren Behandlungsbedürftigen Depressionen befallen werden.  
Ein Kennzeichen von Depression ist das Drehen der Gedanken um immer gleiche negative Eindrücke und Gefühle, welche zunehmend die Empfindungen für Freude und Genuss am Leben auslöschen. Schon antike Denker waren der Meinung, dass das Schöne (-in der Kunst, - bei den Frauen, in der Geselligkeit, in der Natur) die Sperre einer Depression aufbrechen kann und  sich Erscheinungen des Schönen gegen eine solche Sperre nutzen lassen.
Das Schöne kann also ein Gegen-Mittel gegen die Schwierigkeiten des Lebens sein; es zieht  Aufmerksamkeit auf sich und lenkt die Empfindungen auf seine Betrachtung und seinen Genuss.     
Warum kann es aber auch ein Gift sein? - Weil wir nicht sicher sein können, wann das Schöne eine (falsche) Illusion unserer Sinne ist, - oder ein  gestaltendes Element unserer Welt.
ALBERT EINSTEIN, der große Theorie-Erfinder, hielt die Schönheit offenbar für ein gestaltendes Element unseres Universums. Während jahrelanger Suche nach einer schlüssigen Formel für die Beziehung von Materie zu Raum und Zeit nahm EINSTEIN zwei Freunde mit exzellenten Mathematik-Kenntnissen zu Hilfe. Gemeinsam erarbeitete hoch komplizierte Formeln befriedigten EINSTEIN gerade wegen ihrer komplizierten Länge nicht. Er drängte nach immer weiterer mathematischer Reduktion.  
Als er schließlich zu seiner Formel: E = mc2
(Energie = Masse mal Geschwindigkeit im Quadrat) fand, bestätigte die Knappheit der Formel für ihn ihre Richtigkeit, weil sie – nach seinen Worten – „schön“ sei.  
Als FALSCHE Illusion oder Wunschvorstellung unserer Sinne kann Schönheit  zu schrecklichen Ergebnissen führen. Das Verbreiten von schlimmen Illusionen hat das 20. Jh zu einem Jahrhundert des Schreckens gemacht.         
Als falsche Illusion ist Schönheit ein Gift, das verführen kann. Als ordnendes Element der Welt kann Schönheit als Gegengift wirken gegen die Belastungen, die die Welt uns zumutet.      
Wenn das Schöne keine Illusion ist, sondern ein Element, das das ganze Universum durchzieht, können wir uns an seiner positiven Wirkung freuen. Wie könnte man entscheiden, ob Illusion oder Wahrheit?
Es gibt ein Kriterium, das alles wirklich Schöne auszeichnet: Eine jeweils ihm eigene ORDNUNG. Alles gelungene Schöne ruht auf der Basis einer ihm eigenen ORDNUNG seiner Elemente, denen nichts hinzugefügt und nichts entnommen werden kann, ohne seine Schönheit zu beeinträchtigen. Verständnis für etwas Schönes erhält man, wenn man  Ordnungen  erkennen lernt: Formen bilden Brücken zu anderen Formen, Farben verbinden sich mit ähnlichen Farben zu Farbklängen, Leerräume werden mit anderen Leerräumen zu Mustern des Ganzen.
Das lässt an das Gefüge des Kunstwerks denken, den Prototyp des Schönen. Jedes Kunstwerk ruht auf der Basis von einer eigenen Ordnung der gestalterischen Elemente, die der kreative Künstler aussucht, arrangiert und verarbeitet, bis die Elemente zu einem Ganzen werden, das der Vorstellung des Künstlers von einem Kunstwerk entspricht. 
Qualität und Rang eines Kunstwerks lassen sich erst einschätzen, wenn man die Ordnung seiner Elemente erfasst hat, die hinter der Schönheit seiner Erscheinung steht.      
EINSTEIN „erkannte“ die Vollendung seiner berühmten Formel an ihrer knappen Ordnung, die ihm „schön“ erschien. Die Qualität der Schönheit hat ihn in seiner Überzeugung bestärkt, dass diese Formel richtig ist; was sich bestätigt hat.
Mit dem Kriterium einer zu Grunde liegenden Ordnung kommt man dem Verständnis des Schönen näher.
Aber eine unruhige Frage bleibt:
Kann man sich auf die Ordnung des Schönen verlassen, die erkennbar ist, oder muss man sich vor seinen unerkannten Verführungen hüten? Besteht Sicherheit oder Unsicherheit im Erkennen des Schönen? Im Kunstwerk, in der Natur, in der weiblichen Schönheit, in der Lebensgestaltung, in der Gesellschaft?

Was schön ist, entscheidet in der Regel jeder nach seinen Vorlieben.
Um Schönes einigermaßen dauerhaft zu machen, muss es von uns in Ordnung gehalten werden. Nichts bleibt schön in der Unordnung. Im Alltag erfahren wir ständig, dass Ordnung Mühe macht. Wenn wir Bücher oder Papiere häufig benutzen, legen wir sie nicht jedes Mal an ihren Platz zurück, sondern auf einen Stapel, der anwächst, bis er so unübersichtlich wird, dass dringend aufgeräumt werden muss;  oder es entsteht ein chaotischer Berg, über den man nicht mehr Herr wird. 
Alle MATERIELLEN Dinge haben die Tendenz zu chaotischer Unordnung. Das hat die Wissenschaft als ein physikalisches Gesetz erkannt. Zugleich wurde erkannt, dass alles LEBENDIGE dieser Tendenz entgegenwirkt. Das LEBENDIGE strebt ständig danach, das Chaos der MATERIE in Ordnung zu bringen! 
Täglich beobachten können wir das an unserem eigenen Körper. Der perfekte Austausch seiner lebendigen Substanzen untereinander entwickelt die Abwehr- und Reparaturkräfte, die die täglichen kleinen Schäden an der MATERIE unseres Körpers in Ordnung bringen, oft ohne dass wir es bemerken. 
Für alles, was wir als Menschen zum normalen Existieren auf dieser Welt brauchen, sind wir hinreichend ausgestattet; in vorderster Linie durch unsere fünf Sinne.
Die Sinne: SEHEN, HÖREN, RIECHEN, SCHMECKEN, TASTEN sind uns in allererster Linie NÜTZLICH. Ohne sie können wir uns hier nicht orientieren.
Überraschender Weise haben diese fünf Sinne aber auch die Eigenschaft, Anstöße zum SCHÖNEN auszulösen:  Es erfreut uns, in ein schönes Gesicht zu SEHEN, Musik unseres Geschmacks zu HÖREN, an einer Blume oder Frucht zu RIECHEN, etwas Leckeres zu SCHMECKEN, etwas Weiches zu STREICHELN! Der Doppelcharakter, Nützliches UND Schönes aufzuspüren, zeichnet alle fünf Sinne aus.
Darüber hinaus nehmen wir wahr, dass es noch weitere Sinne in uns gibt. Wir sprechen z.B. von einem ‚Schönheits-Sinn‘.  
Aber dieser Sinn, der Sinn für das SCHÖNE, hat keinen Doppelcharakter. Er ist nicht NÜTZLICH.    
Oder doch? 
Ist der SCHÖNHEITSSINN das Gegenmittel gegen die schwer erträglichen Härten, die unsere Existenz treffen können? Kann er die Welt für uns freundlicher machen, unsere seelischen Kräfte am Leben halten? Ist das seine Nützlichkeit? – Vielleicht.   
Das SCHÖNE ist ein Lichtblick im Dunkel.

EIN RICHTIGES ODER EIN FALSCHES URTEIL? Über ein Gedicht von EDUARD MÖRIKE "AUF EINE LAMPE"


Der junge Eduard Mörike schrieb schon als 21-Jähriger Gedichte, die zu den schönsten Versen der deutschen Lyrik gehören. Dazu zählt beispielsweise sein Gedicht:„An einem Wintermorgen vor Sonnenaufgang“. Das Gedicht hat sechs Strophen, mit unterschiedlichem Bau, Rhythmus und Reim. Zwei seiner Strophen sollen hier zitiert werden – die erste und die letzte Strophe – um die Schönheit von Mörikes Sprache zu erleben.

              1.“O flaumenleichte Zeit der ersten Frühe!
                   welch neue Welt bewegest du in mir?
                   Was ist´s, dass ich auf einmal nun in dir
                   Von sanfter Wollust meines Daseins glühe?

              6. "Hinweg, mein Geist! hier gilt kein Stillestehn:
                   Es ist ein Augenblick, und alles wird verwehn!
                   Dort, sieh! am Horizont lüpft sich der Vorhang schon!
                   Es träumt der Tag, nun sei die Nacht entflohn;

                   Die Purpurlippe, die geschlossen lag,
                   Haucht, halb geöffnet, süße Atemzüge:
                   Auf einmal blitzt das Aug, und, wie ein Gott, der Tag
                   Beginnt im Sprung die königlichen Flüge!“ 

Das sich steigernde Bild von einem Sonnenaufgang ist in vollkommener Sprache mitreißend und vollkommen. Mörike suchte seine Bilder nicht; sie traten ihm zu seinem „staunenden Entzücken“ vor die Augen. Ein weiteres Beispiel von Mörikes Bild-Einfällen, aus dem Tal von URACH:

                   „Da seid ihr alle wieder aufgerichtet,
                   Besonnte Felsen, alte Wolkenstühle!“

Wem fällt es ein, Felsen „Alte Wolkenstühle“ zu nennen? Aber wie richtig und groß gesehen ist dieser Felsen-Name, wenn Mörike uns hinführt, Felsen so zu sehen!

Mörike war ein Vielschreiber von Versen.
Er hat über 500 Gedichte hinterlassen, darunter eine Menge von Gelegenheits-Versen; Glückwünsche, Grüße, Danksagungen, Späße, Spott. Darüber hinaus dichtete er viele einmalige Verse, die ihn nach Meinung der Literaturwissenschaft als Lyriker in eine Reihe mit Goethe und Hölderlin stellen.

Im folgenden soll es nun um ein Gedicht gehen, welches viele Wissenschaftler zu den schönsten Versen von Mörike zählen.

                   „AUF EINE LAMPE“ (1846)

                   Noch unverrückt, o schöne Lampe, schmückest du,
                   an leichten Ketten zierlich aufgehangen hier,
                   die Decke des nun fast vergessnen Lustgemachs,
                   Auf deiner weißen Marmorschale, deren Rand
                   Der Efeukranz von goldengrünem Erz umflicht,
                   schlingt fröhlich eine Kinderschar den Ringelreihn.
                   Wie reizend alles! Lachend, und ein sanfter Geist
                   Des Ernstes doch ergossen um die ganze Form –
                   Ein Kunstgebild der echten Art. Wer achtet sein?
                   Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst.

Das ist ein Gedicht über ein DING, eine Lampe. DING-Gedichte zu schreiben, kam Mitte des 19. Jahrhunderts auf. 
Das 19. Jahrhundert war in Europa ein hoch kreatives Jahrhundert mit vielen gegensätzlichen Strömungen. Es legte die Grundlagen für wissenschaftliches Arbeiten auf der Basis von exakten, empirisch gewonnenen Daten:
LOUIS PASTEUR mit seinen Untersuchungen zur Keim-Abtötung durch Erhitzen (Pasteurisieren); mit seinen Erkenntnissen über das Verhalten von Keimen der Kuhpocken und ihre Ausrottung durch eine Impfung. IGNAZ SEMMELWEIS mit seinen Hygiene-Forschungen, die zur Ausmerzung des gefürchteten Kindbettfiebers führten. ROENTGEN mit der Findung seiner Strahlung zur Skelett-Betrachtung. MADAME CURIE. u.v.a.

Auf der anderen Seite war es ein sentimentales Jahrhundert; mit gestickten Sprüchen auf Handtuch-Haltern:
"Geh nie im Zorn von deines Hauses Herd! Schon mancher ging und ist nicht mehr zurückgekehrt" Oder im Poesie-Album: "Steine, Stahl und Eisen bricht, aber unsere Liebe nicht!" Oder: "Üb' immer Treu und Redlichkeit bis an dein kühles Grab und weiche keinen Finger breit von Gottes Wegen ab!" Vielleicht haben manche ältere Leser noch die Sprüche ihrer Großmütter in den Küchen, auf den Töpfen oder in den Poesiealben in Erinnerung.

Die Dinge des kleineren privaten Lebens traten im 19. Jahrhundert mit Pathos ins Blickfeld, nachdem die Zeit der großen politischen Verhätnisse vorbei war. In Deutschland lebte man in der "Biedermeier"-Epoche, die politisch erzwungen war. Vielleicht hat das Aufkommen des Ding-Gedichtes mit dieser Verkleinerung des Lebensstils zu tun. Bedeutende Dichter haben das Ding-Gedicht veredelt; Überragende Beispiele haben RILKE und auch NIETZSCHE geboten. MÖRIKE hat das hoch geschätzte DING-Gedicht "Auf eine Lampe" geschrieben.

Hier soll nun dieses Gedicht mit seinem großen Ruf näher,und auch kritisch, betrachtet werden.
In seiner Form sieht das Gedicht aus wie ein fest geschlossener Block von zehn Langzeilen, in einem schön schwingenden Jambischen Rhythmus mit sechs Hebungen pro Zeile, ohne Reim. 
So wie dem Dichter Mörike seine Bilder ohne Arbeit beim Anschauen einfielen, so fließend läuft der Rhythmus seiner Sprache beim Dichten, ohne sich dabei von Regeln hemmen zu lassen.
Der oft ganz natürliche Sprachlauf von Mörike-Gedichten ist fast einzigartig. Selbst bei den genannten Größten, Goethe und Hölderlin, spürt man die Arbeit beim Einpassen von Wörtern in Verse oft deutlicher als bei Mörike, der Regeln wohlklingend übergehen konnte.

Beim Lesen des geschlossenen Blocks „Auf ein Lampe“ dem Inhalt nach, merkt man ohne Mühe, dass der geschlossen erscheinende Block fein und unauffälig gegliedert ist. Er besteht aus drei inhaltlich unterschiedenen Teil-Stücken mit je drei Zeilen; plus einer Abschlusszeile am Ende des Blocks.

Im ersten Drei-Zeiler wird eine Situation beschrieben: In einem "fast vergessenen Lustgemach" hängt an zierlichen Ketten eine "schöne Lampe". Im zweiten Dreizeiler wird die "schöne Lampe" zum genauen Anschauen detailliert beschrieben. Der dritte Dreizeiler trägt die Emotionen vor, die den Dichter beim Anblick des Ganzen berührt haben.

Die Abschlusszeile beschließt das Gedicht mit einer bedeutungsvollen Aussage des Dichters, über die seit langem diskutiert wird.

Jeder der Dreizeiler wirft seine eigenen rätselhaften Fragen auf … Beim ersten Dreizeiler fängt das Rätselraten an!

Mit einem fast kriminalistischen Einschlag bleibt das „Lustgemach“ im Unerklärlichen:  Was hat es mit einem Lust-Gemach auf sich? Wo befindet es sich? Wer kannte es und wer hat es vergessen? Wer hat da sein Lust gehabt?

Die ersten drei Zeilen können den vorsichtigen Verdacht auslösen, der Dichter selbst habe dort einst seine Lust gehabt …

Wenn jemand merkt, dass etwas fast vergessen ist, dann war er es womöglich selber, der das Gemach einst kannte und dann fast vergessen hat, denn ein Unbeteiligter kann die Geschichte von einem fast vergessenen Gemach, von seiner Ausstattung und seinem Ort nicht kennen. Und warum fällt der Blick in dem Gemach ausgerechnet an die Decke, mit der Lampe?

Der scheue Mörike nutzt vorsichtige Worte für das Intime ... Wenn man seine Lust hat, LIEGT man meistens – der Blick geht an die Decke und trifft auf die Lampe. Der Dichter scheint so lebhaft in seiner Erinnerung zu lesen, dass ihm auffällt: Die Lampe hängt „noch unverrückt“ ganz wie einst. Das Vergangene wird ihm Gegenwart … Vielleicht will der erste Dreizeiler ein eigenes Erlebnis versteckt andeuten, im Lustgemach.

Der zweite Dreizeiler konzentriert sich auf den erblickten Gegenstand, die Lampe, und beschreibt sie im Detail! Sie ist ein Gegenstand der industriellen Massenproduktion, eine Gusseisenlampe aus der Mode der Zeit! Ein renommierter Germanist, Gerhard von Grävenitz, Spezialist der Mörikeforschung, bestätigt: „Mörike schrieb eines seiner schönsten Gedichte über die seinerzeit massenhaft hergestellten Gusseisen-Lampen.“

Jetzt bildet sich beim Leser Widerstand – bewundert Mörike in seinem Gedicht ein Massenprodukt des 19. Jahrhunderts für viele Wohnstuben? Im dritten Dreizeiler verstärkt sich der Widerstand zu einer kritischen Distanz gegenüber dem Gedicht!

„Ein Kunstgebild der echten Art“ so beschreibt Mörike die Lampe. Nein! Dieses Urteil ist falsch! Die bewunderte Lampe ist kein Kunstgebild´ der echten Art! Sie ist ein mit Kitsch behaftetes Industrie-Produkt der Zeit-Mode. „Wer achtet sein?“ Natürlich Niemand! denn solche Produkte werden am laufenden Band gemacht und sind massenhaft zu finden. Nichts Besonderes. Aber mit dem Irrtum über die Qualität seines Gegenstandes steht die Qualität des Mörike-Gedichtes auf dem Spiel! 

Die Frage ist nur: warum behält das Gedicht bei den Fachleuten trotzdem seinen Rang als "eins der schönsten Gedichte" von Mörike? Mörike hat sich in seinem Geschmacksurteil radikal geirrt! Er hat etwas maschinell Serienmäßiges ohne Bedenken in den Rang von Kunst erhoben und es entsprechend hoch besungen – trotzdem soll die Qualität des Gedichtes davon unberührt bleiben?

Der Kritikpunkt bietet Anlass, die gesamten Beziehungen des Gedichtes neu zu überdenken.
Warum nennt der Dichter auf dem Höhepunkt seines Gedichts die Lampe ein "echtes Kunstgebild"?
Man geht zurück zum Anfang. Und begegnet wieder diesem ersten, rätselhaften, Dreizeiler! Nun fällt auf, dass am betonten Ende des Dreizeilers die Wortkombination „Vergessenes Lustgemach“ steht. Worte am Satzende haben im Gedicht durch ihre Position häufig ein besonderes Gewicht.

Ist es vielleicht weniger die Lampe, die die aufkommende Stimmung auslöst? Wird die „Fröhlichkeit“ der „sanfte Geist des Ernstes“, „Alles Reizende“ von der Erinnerung an ein Lusterlebnis in dem vergessenen 'Gemach' erzeugt? Trägt die Lampe nur zur Fixierung einer Erinnerung bei? Mit der Konkretisierung eines munteren Ringelreih´n, bei dem ohne Zweifel mit alten Symbolen wie dem Efeukranz, als Zeichen des Dionysos, oder mit dem Tanz der kindlichen Putti als Erotica gespielt wird? Wann würde zum einen der Verdacht vom eigenen Erlebnis im Lustgemach wahrscheinlicher.

Zum zweiten ließe sich Verständnis herstellen für das geschmackliche Fehlurteil über die Lampe! Mörike war ganz Lyriker, kein Denker wie die denkenden Lyriker Goethe und Hölderlin. Lust zu einer kritischen Analyse war Mörike fremd. Ihm fiel zu, was Stimmungen in ihm wach riefen und spontan seine Kunst auslösten.

Über das Entstehen seiner Dichtungen gibt Mörike selbst mehrere Hinweise in dem Gedicht

                   "An einem Wintermorgen"
                   
                   Wer hat den bunten Schwarm von Bildern und Gedanken
                   Zur Pforte meines Herzens hergeladen,
                   Die glänzend sich in diesem Busen baden?

Ein Schwarm von Bildern überfällt den Dichter und weckt seine Sprache! Der Dichter als Instrument, auf dem die Eindrücke spielen und sein Herz sprechen lassen:

                   Die Seele fliegt, soweit der Himmel reicht,
                   Der Genius jauchzt in mir! Doch sage …

                   Hinweg, mein Geist! Hier gilt kein Stillestehn:
                   Es ist ein Augenblick, und alles wird verwehn!

Im unerwarteten, hoch inspirierten Augenblick wehrt der Dichter sein Denken, seinen Geist ab! Er weiß genau, dass Nachdenken über diesen Glücksmoment die kostbare Inspiration vertreibt. Er muss in diesem seltenen Augenblick mitschwingen, bevor alles verweht! Lyrische Inspiration ist ein Augenblick und der Dichter muss ihn fassen.

Wahrscheinlich hatte Mörike gar kein Interesse am objektiven Kunstwert seiner Lampe!  Es geht ihm um sein Werk und wenn die Lampe das Werk steigert, weil sie seine Sprache löst, ist sie für ihn ein "echtes Kunstgebild"! Ein "Kunstgebild", das in ihm ein Kunstwerk schafft.

Mit einem lyrischen Gedicht muss man vorsichtig umgehen. Es ist zu keinerlei Logik verpflichtet, sondern will eine Meldodie finden, die Ahnungen auslöst von den rätselhaften Stimmungen der Welt, die durch uns durchziehen. Für die Melodie des Gedichts nutzt der Dichter allerlei Mittel; Vokale, Rhythmen, Pausen, Satzzeichen.

Moderne Lyrik nimmt ihren Namen aus dem antiken Griechenland. Lyrik bedeutete dort: 'Gesungene Dichtung mit Lyra-Begleitung'. Die LYRA war ein antikes Zupf-Instrument mit sieben oder vier Saiten, mit dem der Dichter seine Verse begleitete. Ein musikalisches Element gehört zur Lyrik.
Musik und Lyrik sind subjektive Künste, die sich kaum durch Gedanken prüfen lassen. Bei Lyrik kann man selten entscheiden, ob diese oder jene Interpretation die ganz Richtige ist. Man kann nur von seiner eigenen subjektiven Interpretation überzeugt werden. So wird hier folgende Interpretation vorgestellt: Das objektiv FALSCHE Urteil über die Qualität der Lampe ist wohl ein RICHTIGES Urteil aus dem Mund des Dichters; Die Lampe wird wirklich zum „echten Kunstgebild“, weil sie ein echtes Kunstwerk im Dichter hervorlockt.

Warum das Mörike-Gedicht ein Kunstwerk ist, wurde angedeutet. Die feine unauffälige Gliederung des Gedichtes, der natürliche Lauf der gebundenen Sprache, ein „Schwarm“ von schönfarbigen Bildern, der lachende und sanfte Ernst der Stimmung und nicht zuletzt das geheimnisvoll Unerklärliche der Situation machen es sicher zu einem Kunstwerk.

Bleibt zum Nachdenken der berühmte Schlusssatz von Mörike:

                   „Ein Kunstgebild der echten Art. Wer achtet sein?
                   Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst“

Mörike sagt wohl mit seinem Satz, dass etwas, das schön ist, auf ihn wirkt, als sei es mit sich selber selig. Es braucht dazu keine Beachtung oder Bestätigung.

Mit dem Schlusssatz seines Gedichts lehnt sich Mörike an sein bewundertes Vorbild, an GOETHE an: GOETHE lässt in FAUST II den Centaur CHIRON – einen weisen Mann mit Pferdeleib, welcher Helena als kleines Mädchen auf seinem Rücken über einen gefährlichen Sumpf getragen hat – über HELENA sagen:

                   „Die Schöne bleibt sich selber selig;
                   Die Anmut macht unwiderstehlich,
                   Wie Helena, da ich sie trug.“

Da stehen sich zwei Gedanken über Schönheit gegenüber:

                   „Die Schöne bleibt sich selber selig"
                   (GOETHE)
                   „Was aber schön ist,selig scheint es in ihm selbst."
                   (MÖRIKE)

Es zeigen sich, bei großer Ähnlichkeit, Unterschiede in der Formulierung und in der Bedeutung. 
MÖRIKE formuliert vorsichtig. Ihm SCHEINT es, dass etwas Schönes mit sich selbst ganz selig ist, ohne Beachtung nötig zu haben. Etwas Schönes kann bei Mörikes Formulierung vielerlei sein: Ein schönes Ding, ein schöner Fleck Natur, eine schöne Musik – oder auch eine Lampe. Eben etwas Schönes! Der ältere GOETHE meint mit seinem Satz das Phänomen an sich, DAS SCHÖNE; seit der Antike verkörpert durch "Die schöne Helena" als die Schönheit selbst. Dahinter steht die Philosophie des deutschen Idealismus.

Der bescheidenere, eigensinnige jüngere Mörike horcht auf sich selbst, nicht mehr auf den deutschen Idealismus.Aber irgend etwas verführt ihn, mit seinem Gedicht über die Lampe ins Philosophische zu geraten, sich an den von ihm bewunderten Goethe, den Klassiker anzulehnen! Er lehnt sich an! Er gibt seinem Gedicht die fast klassische Form eines geschlossenen Blocks, mit einem Urteil als Abschluss, einem Abstraktum über ein Erlebnis.

Das lebendige Erlebnis tritt in der Wirkung zurück; der Leser kann es nur vage erraten. Die Bilder im Gedicht an die Lampe sind schön, assoziativ, sie malen eine Situation. Aber diese Bilder sind nicht MÖRIKES Bilder! Er hat sie nicht selbst erfunden, so wie er die Felsen als alte Wolkenstühle erfindet, oder wie bei ihm der Tag wie ein Gott die königlichen Flüge beginnt, im Sprung! Die von Mörike verwendeten Bilder im Gedicht "Auf eine Lampe" sind uralt, seit der Antike erfolgreich benutzt als DIONYSOS-Zeichen und Erotik-Symbole,und sie sind sehr schön. Aber sie sind nicht von Mörike gefühlt und erdacht. Sie kommen aus der Tradition.

Damit ist die Stärke von Mörike vertan, das Erfassen eines hoch inspirierten raschen Augenblicks, der nur in ihm ein Erlebnis zündet, das den Leser hereinzieht in diesen entspannten Glücksmoment, den es nur einmal gibt und jetzt.

Weder die Form, noch die Rhythmik, noch die Bilder des Gedichts 'Auf eine Lampe' vermitteln ganz den Ton, der Mörike in seinen besten Gedichten eigen ist. Das „Kunstgebild“ dieses Gedichts ist eine Anlehnung an Klassisches, schon Erfundenes.  Es wirkt damit steifer und eingeengter als seine schönsten Gedichte.  Die Bindung an die Regel eines geschlossenen Blocks, mit abschließender Beurteilung, tut der Leichtigkeit des Gedichtes nicht gut. Die Bindung an eine klassische Versform beeinträchtigt die Begabung von Mörike, seiner Sprache freien Lauf zu lassen, wenn die Schönheit einer Inspiration ihn trifft. Im „Lustgemach“ hat ihn eine Inspiration getroffen, aber die Bindung an eine Tradition hat ihre lebendige Darstellung unnötig gezähmt.

Noch etwas bremst die Entfaltung von Mörikes besonderer Begabung: die beschriebene  „Lampe“ selbst! Wenn Mörike den großen Welt-Erscheinungen wie „Tag“ und  „Nacht“, „Lust“, Wetter“,“Felsen" im inspirierten Augenblick begegnet, so sind diese Erscheinungen so groß wie die Welt selbst („Gelassen steigt die Nacht ans Land, lehnt träumend an der Berge Wand …“) Auf der "Lampe", dem Industrie-Produkt des 19.Jahrhunderts, tanzen kleine gestanzte Figürchen auf einem Blechstreifen, das ist alles. Diese aus Blech geschnittenen Figürchen sollen die mächtigen Kräfte von Liebe und Wollust aufrufen.

Größer könnte das Missverhätnis von Welt-Erscheinungen, wie sie Mörike in seinen besten Gedichten erlebt, gegenüber denen, die er im Gedicht „Auf eine Lampe“ beschreibt, nicht sein. Die Anlehnung an die Tradition hat Mörikes Begabung überdeckt.

Eins der „schönsten Gedichte“ von Mörike sind seine Verse „Auf eine Lampe“ nicht.